: „...mit uns zieht die neue Zeit!“
■ Die Reinickendorfer SPD ehrte am vergangenen Samstag 86 Parteijubilare / Sieben von ihnen traten schon 1919 in „die Partei“ ein / Die Alternativbewegung der zwanziger Jahre bei Kaffee und Kuchen: „Wofür haben wir gekämpft?“
Die Seniorenkapelle „Willi Kisch“ trägt heute rote Westen auf weißem Hemd. Der Genosse Alfred Tapp, etwa 85 Jahre alt, trägt zur Feier des Tages einen roten Schlips. Auf dem Tisch liegen 86 rote Urkunden und im Treppenhaus des Vereinsheims VFL-Tegel, wo etwa 100 Sozialdemokraten im Durchschnittsalter von 70 Jahren bei Kaffee und Kuchen sitzen, stapeln sich die roten Nelken: Die Reinickendorfer SPD, mit 3.800 Mitgliedern der größte Kreisverband Berlins, ehrte am vergangenen Samstag nachmittag 86 Mitglieder für ihre „langjährige Mitgliedschaft“. Darunter waren sieben Sozis, die es schon siebzig Jahre lang in „der Partei“ ausgehalten haben. „Ich bitte Euch, an diese Partei auch weiterhin zu glauben!“ ruft Hans Peter Lorenz, geschäftsführender Landesvorsitzender der SPD, den alten Genossinnen und Genossen zur Feier des Tages zu, denn: „Wir haben einen Erfahrungsrückhalt in Euch Jubilaren. Wir sind demütig und stolz auf Euch!“ So sprach der Funktionär, und die Musikanten fiedelten „dem Morgenrot entgegen“.
Die entsprechenden Noten- und Textblätter wurden zwar vorsichtshalber neben den Kirschkuchen gelegt; Grete Sonnemann, 85, hat sie nicht nötig. Genossin Sonnemann startete ihre Berliner Politkarriere im Revolutionsjahre 1919. Allerdings nicht bei der SPD, sondern bei den „Unabhängigen Sozialdemokraten“ und deren Jugendorganisation, der „Sozialistisch-Proletarischen Jugend“. Da die beiden konkurrierenden Parteien Anfang der zwanziger Jahre wieder fusionierten, „zählt das heute mit“. Den Bruder und Schwesternkrieg der Arbeiterbewegung hatte die Tochter eines Schuhmachers jeden Sonntag live in der Familie. „Mein älterer Bruder war Kommunist, mein jüngerer Mehrheitssozialdemokrat. Meine Schwester war auch in der USPD. Da wurde in der Werkstatt immer ganz laut diskutiert!“
„Mit uns zieht die neue Zeit!“ singen die Jubilare im Reinickendorfer Vereinsheim und beschwören die Vergangenheit. Genossin Sonnemann kämpfte in den zwanziger Jahren mit ihrer „Mädelgruppe“ bei den Jungsozialisten für weltliche Schulen und Koedukation. Sie und ihre Genossinnen trugen sogenannte Reformkleider - die Latzhosen der Zwanziger Jahre sozusagen -, hohe Absätze und Korsetts waren in der Sozialistischen Jugend verpönt. Im Arbeitersport engagierte sich die Sozialistin ebenfalls - als linke Verteidigerin beim Handball. „Wir waren gegen Leistungssport, für sinnvolle Freizeit!“ erklärt sie. Was Frau Sonnemann von den „Alternativen“ hält? „Ich freue mich immer, wenn die Grünen eine Rede halten im Parlament, weil das sehr theoretisch und politisch ist.“ Ein bißchen suspekt sind sie ihr aber doch, - wegen „des Äußeren“.
„Viele von Euch werden die Welt nicht mehr verstanden haben, als wir mit der AL eine Koalition gemacht haben!“ erklärt Genosse Lorenz dem Publikum, kommt auf den „schrecklichen 1.Mai“ zu sprechen und müht sich, Feindbilder abzubauen, die er bei den alten Sozialdemokraten vermutet. „Ach, da sind doch alle sehr abwartend, nicht nur wir!“ meint Grete Sonnemann dazu.
„Der Momper wird das schon machen!“ - davon ist Georg Schallamach, 87, überzeugt. Der gelernte Maschinenschlosser erinnert sich im Laufe des Gesprächs weniger an politische Ereignisse als an Karrieredaten. Bis zum Kolonnenführer und zum Werkmeister hat er es in einer Fabrik in Oberschönweide gebracht. Nach dem Krieg wurde die von den Russen demontiert; Schallamach sollte mit in die Sowjetunion. „Det hab ick abjelehnt“, erzählt er, „von den 50 Kollegen sind auch nur 25 wiedergekommen.“ Nach dem Krieg wurde er dann Schulhausmeister in Reinickendorf. „Die Jugend von heute ist nicht mehr so, wie wir mal waren!“ stellt der aufgestiegene Sozialdemokrat im Hinblick auf die Kreuzberger Krawalle denn auch fest und bestellt den Musikern einen Schnaps. „Denen fehlt einfach Idealismus!“
Ob Parteiarbeiterin oder Angestellter: Vor der Partei sind heute alle gleich. In trauter Eintracht sitzen die alten Genossinnen und Genossen, die sich auch nicht immer grün waren, beisammen und singen „Wann wir schreiten Seit an Seit.“ Die meisten sind nicht mehr „aktiv“, zur sozialdemokratischen Familie gehören sie trotzdem noch. Generationsprobleme? Auf die Frage, was Grete Sonnemann denn von den Diskussionen unter Feministinnen hält, die die Koedukation wieder in Frage stellen, schüttelt sie entsetzt den Kopf: „Um Gottes Willen. Wofür haben wir denn dann gekämpft?“ Und einer Freundin von ihr fällt dazu noch eine vergessene Strophe der SPD-Hymne ein: „Weib und Mann und Mann und Weib/ sind nicht mehr wie Wasser und Feuer/ durch unsere Herzen zieht ein neuer...“ Weiter weiß sie nicht mehr.
ccm
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