: Zur deutschen Frage
■ Ein Beitrag von Freya Klier, 1988 von der DDR ausgebürgerte Theaterregisseurin und Autorin
DEBATTE
Am Wochenende fand in Bonn ein von der Heinrich-Böll -Stiftung organisierter Gegenkongreß zu den offiziellen Jubelfeiern anläßlich des 40. Jahrestages der Bundesrepublik statt. Freya Klier war unter anderen als Referentin geladen und stellte ihren Beitrag, den wir im folgenden leicht gekürzt bringen, zur Diskussion.
Mein „deutsches Gefühl“ hält sich in Grenzen. Das mag daran liegen, daß ich zur Zeit des Mauerbaus noch Thälmann-Pionier war... Vielleicht auch daran, daß ich einen italienischen Großvater habe. Die deutsche Frage aber beschäftigt mich außerordentlich.
Als hier in der Bundesrepublik die Wogen um das Ausländerwahlrecht hochschlugen, setzte sich das 'Neue Deutschland‘ mit einem Artikel, in dem die SED den Ausländern der DDR erstmals das Wahlrecht zugestand, wieder an die Spitze des Fortschritts. Es handelt sich um einen jener Vorgänge, die im Westen mit dankbarem Nicken quittiert werden. Doch was im ausländerfreundlichen Gewand daherkommt, ist eines genaueren Blickes wert.
1973 nahm die SED in einem einmaligen Akt der Solidarität chilenische Familien auf. Sie wurden liebevoll behandelt, trotzdem sind die meisten von ihnen in ihre Heimat zurückgekehrt oder in kapitalistische Länder Europas übergesiedelt. Von dieser Episode und ein paar Europäern abgesehen, gibt es fast keine Ausländer in der DDR. „Asylanten“ kommen da nicht herein, nein, auch politisch Verfolgte nicht. Die Partei überschlägt sich mit Solidaritätsadressen, aber die Schwarzen im eigenen Land? Nein danke. „Gastarbeiter“ und eine begrenzte Zahl von Studenten - ja. Aber erstens ohne Familie und zweitens müssen sie sofort nach Ende des Studiums oder des Arbeitseinsatzes das Land wieder verlassen.
Verliebt sich also ein afrikanischer Student in eine deutsche Frau, ist vielleicht ein Kind unterwegs und soll geheiratet werden, so steht den beiden ein jahrelanger, nervenaufreibender Kampf um die Genehmigung ihrer Eheschließung bevor. Die Mürbetaktik hat einen plausiblen Grund: Bei den meisten erledigt sich die Liebe peu a peu, denn unser Student muß sich ja in der Zwischenzeit in seinem Heimatland aufhalten, die Frau darf ohne Eheschließung nicht dahin. Überdauert das Gefühl aber die „Probezeit“, so darf das Paar heiraten und auch zusammenleben. Aber nicht in der DDR - wenn schon, dann bitte in Afrika!
Noch verschärfter sieht es bei den ungefähr 80.000 ausländischen Arbeitern aus. Sie werden für einige Jahre zur Arbeit und Berufsausbildung in die DDR delegiert prinzipiell ohne Anhang. Sie wohnen an den Rändern der Stadt, in kasernenähnlichen Unterkünften: in den Kleinstädten dürfen sie nur bestimmte Gaststätten aufsuchen, um den Konflikt mit deutschen Jugendlichen gering zu halten. Zwischen ihren Heimatländern und der SED gibt es klare Absprachen, daß „Mischungen“ möglichst zu unterbleiben haben, die „Gastarbeiter“ werden vor Reiseantritt entsprechend instruiert. (...)
In keinem anderen Land Europas wird Solidarität mit den kämpfenden Völkern Afrikas oder Asiens derart propagandistisch ausgeschlachtet wie in der DDR: Geballte Fäuste und schwingende Hüften zu jedem großen Meeting. Es ist jene zynische Fassade, hinter der sich ein stockkonservativer Ordnungssinn verbirgt, in dem das Fremde keinen Platz hat. Doch nun der Punkt auf das „i“ des Zynismus: Am 7. Mai stand der DDR jenes lang trainierte Zettelfalten ins Haus, das sich „Wählen“ nennt. Schon weit im Vorfeld riefen kritische Stimmen dazu auf, diesen unwürdigen Vorgang endlich zu boykottieren. Da hinein platzt nun die „Wahlchance“ für Ausländer - sie werden an der Urne gebraucht, um die ausbleibenden Stimmen zu ersetzen.
Was hat dieser Vorgang mit der Deutschlandfrage zu tun? Ich meine, viel. Denn er ist symptomatisch für die gesamte SED -Politik.
Die Gründlichkeit der DDR-Analyse ist es, die ich in der Deutschlandpolitik der Grünen vermisse. Ohne diese aber kann die außerordentlich komplizierte Frage nicht gedacht werden. Das Schieben von Militärblöcken ist zu wenig. Ein gemeinsames Europa der Zukunft erfordert zuallererst die nüchterne Bestandsaufnahme seiner Gegenwart.
„Die DDR anerkennen - im Gegenzug muß die SED ihren Bürgern Reisefreizügigkeit und Begegnungsfreiheit garantieren“ - das war eure Reaktion auf den letzten Mauertoten im März, bei dem der Bundestag wieder rituell protestierte. Ich gestehe, mich überfiel ein Magenkrampf. Denn das heißt ja nichts anderes als „Deckel auf die Wunde und Schluß“. Oder seid ihr tatsächlich so naiv zu glauben, das Zentralkomitee beende sein Diktat, wenn es sein Hauptziel endlich erreicht hat seine völkerrechtliche Anerkennung? Habt ihr die Geschichte des Komintern nicht studiert? Wo haben sich Stalinisten jemals als Totengräber ihrer eigenen Macht anheuern lassen? Gorbatschow konnte doch seinem ZK nur deshalb die „Flucht nach vorn“ offerieren, weil sein Beraterstab Zahlen und Fakten auf den Tisch legte, wie sie schwärzer nicht ausfallen konnten - sie kündeten nämlich vom völligen Ruin der Sowjetwirtschaft noch vor der Jahrtausendwende. So weit am Boden aber ist die DDR-Wirtschaft nicht.
Die Folgen der Anerkennung einer DDR, wie wir sie jetzt vorfinden, kann ich euch in bunten Farben schildern: Sie würde zu einer panischen Fluchtwelle der nunmehr völkerrechtlich sanktionierrt Eingemauerten führen. (...) Ich glaube nicht, daß das in eurem Interesse liegt.
Nein, es geht nicht ums Völkische und nicht um die Grenze zu Polen. Die ist unantastbar, da gibt es keine Irritation. Anber ihr könnt nicht in ein europäisches Haus einziehen, in dem ihr jene Flügel bunt streicht, die noch maroder sind als jene, die wir ohnehin dringend rekonstruieren müssen. Ich spreche da auch von der CSSR, auch von Rumänien.
Die Binde von den Augen, liebe Freunde. Die Wiedervereinigung ist doch längst im Gange. Die Geschäfte florieren, die Funktionäre nun schon fast aller Städte östlich und westlich der Elbe schütteln sich einvernehmlich die Hände. Der Westen übereignet dem Osten seinen Müll, dafür übereignet der Osten westlichen Unternehmern seine Arbeitskräfte zu Dumpingpreisen. Das beschreibt doch die Situation wesentlich genauer als alle deutsch-deutschen Papiere... Daß die Bauarbeiter West-Berlins mit der roten Fahne gegen ihre Ost-Kollegen demonstrieren, weil die ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen. Die alten ideologischen Muster sind doch nur Pappkameraden für den Wahlkampf. Da wird es nun also Zeit, daß auch wir unsere Schubladen aufbrechen.
1978, auf dem Russell-Tribunal, sprach sich Rudi Dutschke vehement gegen die deutsche Teilung aus. Kein Grund zum Schock - er war ganz einfach davon betroffen. Er hatte „die Flocke“ aus der DDR gemacht, hinter der Mauer saß seine Familie. Man wird ihm auch beim besten Willen keine Deutschtümelei unterschieben können. Unter der Teilung leiden tatsächlich ein paar Millionen Menschen. Sie leiden nicht als Deutsche, sondern als Kinder und Eltern, als Geschwister, als Freunde. Jede ihrer Begegnungen hat einen unannehmbaren Preis: den Kniefall vor dem ZK der SED. Den zu sanktionieren, lehne ich ab, weil er die Würdelosigkeit als Dauerzustand behauptet.
Im Osten und Westen Europas wachsen heute Generationen heran, die noch nicht einmal in den Windeln lagen, als die kalten Kriege durch Europa tobten. Wie vermitteln wir ihnen Geschichte? Wir schulden ihnen Denkgenauigkeit und Zukunftsmodelle, in denen der verlogene ideologische Plunder endlich abgeworfen ist. Denn sie haben eine Zukunft vor sich, in der sie nur noch werden atmen können, wenn sie gemeinsam ans Werk gehen - grenzübergreifend, Kontinente überschreitend. (...) Wir sollten wenigstens so fair sein, ihnen die Kommunikationsräume zu erweitern, statt ihre Grenzen nachzumauern. Das heißt zuerst einmal: Runter mit der rosa Brille, wenn es um DDR geht; die gleiche scharfe Elle anlegen wie bei der Bundesrepublik. (...)
Anerkennung der DDR - ja. Aber erst, nachdem das Mitspracherecht ihrer Bürger so weit verwirklicht ist, daß es jeder internationalen Kontrolle standhält. Und das meint weitaus mehr als das Reisen. Das betrifft die Abschaffung des landesweiten Hochschul- und Berufsverbots für alle Nichtangepaßten. Das betrifft Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit - den Abbau des Gewaltmonopols der Partei, das prinzipielle Ende der ideologischen Geiselnahme. Ist das durchgesetzt, werden die Menschen freiwillig in der DDR bleiben, andere vielleicht zurückkehren. Dann ist endlich auch der Krampf aus der der deutschen Frage. Denn dann kann sich jeder selbst entscheiden, ob er unseren polnischen und französischen Freunden einen Besuch abstattet oder sich lieber an der Lorelei kämmt oder ganz daheim bleibt.
Zwischen Großdeutschland und der Einmauerung eines Teils seiner Bevölkerung gibt es einen dritten Weg. Es ist der schwierigste, und wer ihn geht, wird die meisten Angriffe einstecken müssen. Aber er ist auch der einzige, der nicht mit Lügen bepflastert ist.
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