: Labours langer Abschied vom Sozialismus
Die Labour-Party ist nach zehnjähriger Reise in Bad Godesberg angekommen / Sozialdemokratisches Parteiprogramm soll die Partei nach zehn Jahren Thatcherismus wieder wählbar machen / Kinnock: Kapitalismus „effektiver, fairer und erfolgreicher machen“ ■ Aus London Rolf Paasch
Für die Linke ist es der endgültige Ausverkauf sozialistischer Prinzipien - für die Anhänger der Mitte innerhalb und außerhalb der britischen Labour-Party ist es die längst Überfällige Generalüberholung programmatischer Anachronismen: der sogenannte „Policy Review“. Wie kaum ein anderes Parteidokument der Nachkriegszeit erregt das neue Parteiprogramm der Labour-Party in Großbritannien derzeit die Gemüter. Nach zweijähriger Vorbereitung und Diskussion in - meist wohlabgeschirmten - Ausschüssen, mußte der Parteivorstand in dieser Woche über den zukünftigen Weg Labours in die 90er Jahre abstimmen.
Am Montag billigte die Führung mit 23 Ja-Stimmen bei vier Nein-Stimmen die neuen, revisionistischen Vorschläge des Expertenausschusses zur Wirtschafts- und Industriepolitik. Mit diesem Dokument verzichtet die Partei künftig auf die Rückkehr zu „altmodischen Verstaatlichungen“ und will nur den von der Regierung Thatcher privatisierten Telefonkonzern British Telecom und die Wasserwerke in öffentliche Hände zurückführen. Die Steuersätze für niedrige Einkommensverdiener sollen auf 15Prozent gesenkt werden, der Spitzensteuersatz allerdings bei 50 Prozent festgeschrieben werden - Labour will sich nicht dem Vorwurf aussetzen, eine Partei der hohen Steuern zu sein. Die von der konservativen Regierung verbotenen Solidaritätsstreiks will die Partei unter bestimmten Bedingungen wieder legalisieren. Und das zunächst auf 50Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens festgelegte, garantierte Mindesteinkommen soll später auf zwei Drittel des Durchschnittssverdienstes angehoben werden. Der „Policy Review“ schlägt außerdem langfristige Investitionsprogramme im Erziehungs-, Verkehrs- und Wohnungswesen vor. Das Oberhaus will die Partei durch eine gewählte zweite Parlamentskammer ablösen. Und der graduelle Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Atomenergie soll bis zur Jahrtausendwende abgeschlossen sein.
Waren vergangene Labour-Programme immer noch von dem Glauben an den Staatssozialismus geprägt, so huldigt das neue Dokument den von Frau Thatcher befreiten Marktkräften mehr als dies so manchem Labour-Linken lieb ist. Die weitergehenden Vorschläge des ehemaligen Londoner Bürgermeisters von der sogenannten „harten Linken“ - Ken Livingstone will die Zurückführung von Auslandsinvestitionen und eine drastische Reduktion des Rüstungsbudgets zur Finanzierung weiterer sozialer Investitionsprogramme wurden vom Vorstand mit großer Mehrheit abgelehnt. „Jeder naive Wunschzettel-Sozialismus“, so Parteiführer Neil Kinnock zum letzten Aufmucken der Parteilinken, müsse im Interesse der Wählbarkeit zurückgewiesen werden. Für Kinnock besteht die neue Labour-Linie darin, das kapitalistische System, „in dem wir nun einmal leben, effektiver, fairer und erfolgreicher zu machen“.
Schwieriger als der Abschied von traditionellen sozialistischen Prinzipien in der Wirtschafts- und Sozialpolitik dürfte der Partei allerdings der im „Policy Review“ vorgesehene Abschied von einer Politik der einseitigen Abrüstung fallen, über die der Vorstand am Dienstag beraten und abgestimmt hat. Viele in der Partei treten nach wie vor für die bedingungslose Verschrottung des strategischen Atomraketensystems Trident ein, das die alten Atom-U-Boote der Polaris-Klasse nach dem Willen der Thatcher -Regierung ablösen soll. Ob die Parteispitze unter Neil Kinnock ihren vermutlich knappen - und bei Redaktionsschluß noch nicht bestätigten - Abstimmungssieg im Parteivorstand auch bei der endgültigen Entscheidung über den „Policy Review“ auf dem Parteitag im Herbst wiederholen kann, ist derzeit noch fraglich.
Dennoch standen Kinnocks Chancen für eine totale Sozialdemokratisierung der Labour-Party noch nie so gut wie heute. Ausgerechnet am Tag des zehnjährigen Amtsjubliläums von Frau Thatcher konnte Labour in der vergangenen Woche den Tories zum ersten Mal seit 38 Jahren bei Nachwahlen einen Parlamentssitz abnehmen. Ermüdungserscheinungen in der Bevölkerung nach zehn Jahren rücksichtslosem Thatcherismus lassen die Partei seit neuestem auch wieder Meinungsumfragen anführen. Und der Rückfall der beiden Parteien der Mitte, der sozialliberalen Demokraten und der Sozialdemokraten unter ihrem Chef David Owen, in die Bedeutungslosigkeit stärken Labours Position als einzig ernstzunehmende Oppositionspartei. Owen erklärte jetzt, mit den „Policy Reviews“ könne er sogar unter einem Premierminister Neil Kinnock dienen.
Die beiden Flügel in der Labour-Party interpretierten das als Bestätigung: für die Linke als Beweis des ihrer Meinung nach völlig überzogenen Revisionismus bei der programmatischen Erneuerung; für die Parteiführung als Erfolg des eingeschlagenen Weges mit dem Endziel Bad Godesberg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen