piwik no script img

DAS WAHRE UND DAS SCHÖNE

■ „Die Nadel“ von Rachid Nugmanov eröffnet neue Perspektiven im sowjetischen Film

„Ungesunde Tendenzen und unzulässige Szenen“ zeigten den Verfall und die Vulgarisierung der sowjetischen Filmkunst, beklagt sich ein vietnamesischer Filmfreund in einem Leserbrief an die Illustrierte 'Sowjetfilm‘ und verweist auf Bilder von Personen, die „wie der Abschaum der Gesellschaft“ wirken. An diese und andere Unzulässigkeiten auf der Leinwand hat sich das sowjetischen Kinopublikum allerdings in letzter Zeit geradezu gewöhnt. Das Bedürfnis, gesellschaftliche Realitäten unverhüllt sichtbar zu machen, ließ die Autoren und Regisseure vor Tabu-Themen wie Alkoholismus und Gewalt, Prostitution und Kriminalität nicht mehr zurückschrecken - eine gewaltige Veränderung, die besonders dem Dokumentarfilm zugute kam. Was dort zu auch formal beeindruckenden Ergebnissen führte, das zeigt sich im jungen Spielfilm jedoch in eher unbefriedigender Form: Einige der „neuen Realisten“ versäumen über dem Anlegen der oftmals dokumentarischen Spielhandlung eine entschiedene künstlerische Gestaltung. So kritisieren renommierte Kollegen wie der polnische Regisseur Zanussi an Filmen wie der „Kleinen Vera“ (W. Pitschul) das Fehlen einer Analyse der präsentierten Wirklichkeit. Daß die Öffnung zu einer Wirklichkeit voll schockierender Inhalte aber auch in der Tradition und Weiterentwicklung einer eigenständigen Film -Kunst gelingen kann, beweist ein neuer Film eines jungen Regisseurs aus Kasachstan: Rachid Nugamanovs „Die Nadel“ ist ein in der Thematik, der Entstehungsgeschichte und formalen Gestaltung bislang einmaliges Werk.

Der Film entstand 1988 als unabhängige Low-Budget -Produktion mit der technischen Unterstützung eines staatlichen Filmstudios. Er befaßt sich mit den verschiedenen Formen der Drogenkriminalität: Ein junger Mann versucht, eine drogenabhängige Freundin aus den Fängen eines Drogenringes zu befreien, was ihm letztlich nicht gelingt. Diese zunächst einfache Geschichte gewinnt über die realistische Milieuzeichnung und eine ironisch-distanzierte Erzählweise eine Lebendigkeit und Größe, die es ermöglichen, sich den Gefahren einer strapazierenden Thematik auszusetzen, ohne sich darin zu verlieren. In der Grundstimmung, in dem unruhigen, zwischen Fatalismus und Aufbruch stehenden Lebensgefühl seiner Generation bewegt sich Viktor Zoj als junger Held mit einem beharrlichen, fast klassischen Charme. Auf vielfältige Weise unterstützt ihn dabei der Ideenreichtum Nugmanovs, der im Anspielen und Entlarven von Klischees, in der Anwendung spielerischer und surrealer Formen eine erstaunliche (und nur im Musikeinsatz zu großzügige) Virtuosität entwickelt. Er vermag selbst Einflüsse westlicher Film- und Videoästhetik - die ja im Zuge der „Glasnost“ deutlich zunehmen - überraschend zu integrieren.

Diese Szenen und Tendenzen können der „Nadel“ durchaus eine Vorbildfunktion für die neue Spielfilmgestaltung zuweisen; ihren Wahrheitsgehalt bestätigt übrigens der im Vorprogramm gezeigte „Aura“ von Murat Alijev, der als kurze Dokumentation über den organisierten Drogenhandel die „Nadel“ sinnvoll ergänzt.

David Promies

„Die Nadel“ von Rachid Nugmanov läuft mit dem Vorfilm „Aura“ von Murat Alijev n u r am Samstag, dem 13.5. um 19.30 Uhr im Sputnik Wedding (im Rahmen der 10. Volksuni).

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen