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Das Gewissen der russischen Intelligenz

Milan Simecka Ich erhob mich über Dummheit und Lüge

darf aber anderen an das Gewissen rühren

(vielleicht darfst du's

wer ohne Folgen Budapest überlebt ha

und wem Prag das Herz nicht zerrissen hat

Diese Verse aus einem Lied von Wladimir Wyssotzki sind dem tschechoslowakischen Leser in der 12. Nummer der Zeitschrift Sowjetskaja literatura (Sowjetliteratur) frei zugänglich. Sie sind als einzige, wohl damit die Botschaft deutlicher wird, auch in slowakischer Übersetzung und im russischen Original abgedruckt. Es ist sicherlich nicht nötig hinzuzufügen, daß Wyssotzki nicht ein beliebiges Budapest und ein beliebiges Prag meinte, sondern das Budapest des Jahres 1956 und das Prag des Jahres 1968. Ich weiß nicht, ob er dieses Lied je öffentlich gesungen hat, doch halten wir ihm zugute, daß gerade er, einer der populärsten Russen, das russische Gewissen auch in diese Richtung gewendet hat. 1956 war er gerade achtzehn, und im Jahre des Einfalls in die Tschechoslowakei dreißig Jahre alt.

Wir wissen allerdings, daß Prag nur einer sehr geringen Anzahl von Vertretern der russischen Intelligenz das Herz zerrissen hat. Sieben waren es, die in jenen Tagen auf die Straße gegangen sind, um zu demonstrieren, und die dann lange Jahe in der Verbannung verlebt haben. Seither sind zwanzig Jahr vergangen, und mich erfaßt Trauer, wenn ich in einem Abschnitt aus einem Buch von Raissa Orlowa lese, wie ihre weiteren Schicksale waren:

„Wadim Delonz starb in Paris. Wiktor Fajnberg lebt in London. Wladimir Dremljuga und Pavel Litwinow in den USA. Pavel ist Physiklehrer und hält Vorträge über die Menschenrechtsbewegung in der UdSSR. Natalja Gorbanewskaja lebt in Paris, ist Mitglied des Redaktionsrates der Zeitschrift Kontinent, schreibt Verse und Beiträge, Konstantin Babitzki und Larisa Bogorazowa leben in der UdSSR. Larisas Ehemann ist gestorben. Sehr aktiv beteiligt sie sich an immer neuen Samisdat-Zeitschriften, an Symposien und der Arbeit der freien Universitäten.“ (150 000 slov„ (150 000 Worte), VII/88/21)

Nach unseren eigenen Erfahrungen verstehen wir wohl besser als andere, warum das Gewissen der russischen Intelligenz, in bezug auf unser Unglück nur so schwach zu hören war. Es wälzte sich verschlafen in den Köpfen hin und her, die gebeugt waren von der Schwere der Angst und der schrecklichen Erfahrungen. Nur die wagemutigsten Vertreter der russischen Intelligenz erhoben die Stimme gegen das Unrecht, welches ein großes Land einem kleinen angetan hat. Sie sind dafür auch bestraft und später über die ganze Welt verstreut worden, Sacharow, Kopelew, Solschenizyn und viele andere.

Vor drei Jahren jedoch hat sich manches geändert und das Gewissen der russischen Intelligenz begann sich zu regen. Oft kann ich nicht aufhören mich zu wundern, was es alles angepackt hat. Die gesamten siebzig Jahre sowjetischer Geschichte, Stalin, Chruschtschow, Breschnew, die Schädel und verfaulten Knochen in Katyn, die Kollektivierung und die Hungersnot in der Ukraine, die Opfer des Krieges und des Terrors, die Tiefen der Unsittlichkeit, der Korruption und des Verfalls, die sich wie eine Seuche in den zwei Jahrzehnten der Breschnew-Herrschaft ausgebreitet haben.

Drei Jahre habe ich gewartet, wann in das Gewissen der russischen Intelligenz auch unser Unglück mit aufgenommen wird. Diese drei Jahre, das war eine Frist, die ich in meiner Zuneigung zu den Traditionen der russischen Literatur für das Gewissen der russischen Intelligenz gesetzt habe. Selbstverständlich in dem Bewußtsein, daß die ganze Sache für die Einheit des Imperiums eine äußerst „delikate“ Angelegenheit ist.

Drei Jahre habe ich verfolgt, wie die russische Intelligenz durch die Anstrengungen hin- und hergeworfen wird, in den öffentlich enthüllten Schrecken ihre Verantwortung und ihre historische Identität während der gesamten nachrevolutionären Ära zu erläutern und zu begreifen. Es ist natürlich, daß in diesen drei Jahren sich das Gewissen der russischen Intelligenz vor allem nach innen richtete, auf das Leiden des russischen Volkes. Diese Richtung ist statistisch berechtigt, zählen doch die Russen und die anderen sowjetischen Nationen ihre Menschenopfer nach Millionen. Statistisch gesehen kann sich das russische Gewissen einbilden, daß die paar tausend Opfer, die die Verbindung mit dem russischen Schicksal uns gebracht hat, warten können.

Nach drei Jahren der Perestroika jedoch fühle ich trotzdem tiefe Ettäuschung darüber, daß das Gewisen der russischen Intelligenz nicht die Grenzen des Nationalen überschritten hat, daß es bislang nicht genügend Aufmerksamkeit für die Schicksale anderer Nationen geäußert hat, deren Unglück und sittlicher und wirtschaftlicher Verfall vom russischen Schicksal abgeleitet sind. Mir scheint, es ist ein schadhaftes Gewissen, konzentriert nur auf das eigene nationale Leiden. In den Ergüssen der russischen Intelligenz lesen wir heute viel von den unzähligen Prüfungen der Moral, wirkliche moralische Empörung darf jedoch nicht nur die Wunden am eigenen Körper sehen und den Blick abwenden von den Verwundungen, die den Körpern anderer zugefügt wurden. Drei Jahre lang hören wir das Klagen über die vernichteten Schicksale von Millionen eigener Menschen, doch fast überhaupt nicht oder nur sehr selten hören wir ein gleich intensives Klagen über das Unglück anderer.

Ich gestehe zu, daß die Schicksale der Völker Osteuropas kompliziert sind, und daß komplizierte Rechnungen notwendig sind, um den sowjetischen und den einheimischen Anteil an der Gestaltung ihrer Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg zu bestimmen. In zwei Fällen jedoch genügt auch die primitivste Arithmetik, um diesen Anteil präzise zu berechnen: im Falle von Budapest und Prag.

In diesen beiden Städten ist den Ungarn und uns ohne große Skrupel das Rückgrat gebrochen worden. Und die Argumente, die damals in aller Schnelle dafür zusammengekratzt wurden, erscheinen heute, im Lichte der Perestrojka, wie Nachrichten aus der Steinzeit. Bis zum Gewissen der russischen Intelligenz mußten doch auch diese einfachen Rechnungen vordringen. Für das Gewissen sollte die Tatsache irrelevant sein, daß wir, obwohl mit gebrochenem Rückgrat, zu essen und zu trinken haben, sogar in einer Menge, die den Russen nicht zur Verfügung steht. In den drei Jahren der Freiheit, die die russische Intelligenz ein wenig wie ein Wunder annimmt, hat sich zum Einfall der sowjetischen Armee in Ungarn und in der Tschechoslowakei nicht einer von den sowjetischen Intellektuellen geäußert, die im Rufe von „Stars“ der Perestrojka stehen. Diejenigen, die so ohne Rücksicht Stalins Verbrechen enthüllen, Geld für Denkmäler seiner Opfer sammeln, beachten nicht einmal, daß es auch Opfer der Breschnew-Ära gibt. Keiner von ihnen, weder Jewtuschenko noch Woznessenski, weder Adamowitsch noch andere, haben in den drei Jahren eine Bemerkung zu der Gewalt gemacht, die einer ganzen Nation im Jahre 1968 angetan wurde. Andere Schriftsteller, die, denen vor allem das tragische Schicksal der russischen Bauern während der Kollektivierung am Herzen liegt, haben noch weniger Verständnis für die „kleinen Leiden“ der Westslaven. Rasputin, Astafjew und andere haben keinen allzu großen Sinn für „westliche“ Werte, von denen vor zwanzig Jahren die tschechoslowakische Perestrojka berauscht war. Proskurin behauptet sicherlich zu Recht, daß das russische Volk auch schon vor der Revolution existierte, und daß es schon lange vor der Revolution russische Staatlichkeit gab, nur daß die russischen nationalen Erweckten vergessen, gleichzeitig anzumerken, daß zu dieser vorrevolutionären Staatlichkeit etwa auch Warschau gehört hat. Sowjetische Akademie-Mitglieder, Bogomolow, Welichow und Dutzende weitere, bereisen heute kreuz und quer die Welt und kritisieren kühn, mit einer Offenheit, vor der die westliche Öffentlichkeit mit offenem Munde steht, die eigenen Mängel. Doch zeigen sie eine seltsame Unentschiedenheit, wenn sie nach Budapest oder Prag gefragt werden. Akademie-Mitglied Lichatschew die größte moralische Autorität der russischen Intelligenz, weist auf die tragischen Verluste hin, die für Rußland die Absage an die christlichen Traditionen verursacht hat. Doch nicht ein Wort darüber, daß in Prag von russischen Panzern auch Verluste an Traditionen verursacht wurden, die nicht weniger wertvoll waren als die der russischen Orthodoxie. Dschingis Aitmatow kommt nach Karlsbad, bleibt ein paar Tage und gibt dem tschechoslowakischen Fernsehen ein Interview. Vor allem über die Kompliziertheit der Welt, des Friedens, über das neue Denken, über die ökologischen Bedrohunen usw. Und wiederum nicht ein Wort darüber, daß vor zwanzig Jahren seine Landsleute ein Denken hierher importierten, daß schon vor hundert Jahren veraltet war. Wer war hier eigentlich Pilatus und wer Jesus? Als Anfang November in Prag ein Symposium über die siebzigjährige Existenz des tschechoslowakischen Staates stattfinden sollte, war ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages zu Gast. Die Veranstaltung wurde noch vor Beginn von der Polizei auseinandergejagt. Am Abend erzählte mir der Abgeordnete, wie er an Türen der verhafteten tschechoslowakischen Teilnehmer geklopft hatte mit dem zwingenden Bedürfnis, irgendwie zu helfen. Er sagte mir, stellt dir vor, ich, ein Deutscher, klopfe an die Türen derjenigen, die von der tschechoslowakischen Polizei festgenommen worden sind. Und ich bemerkte mit Verwunderung, daß in ihm noch eine ihn persönlich überhaupt nicht betreffende, fast fünfzig Jahre alte Schuld der Vorfahren lebt. Aitmatow hat sich nicht einmal an eine kaum zwanzig Jahre alte Schuld erinert.

Und dann spricht ein anderer „Star“ der Perestroika zu uns, Fjodor Burlatzki. Er erzählt uns von Breschnew, wie dumm der war, dazu noch faul, welche Schwierigkeiten er hatte zu lesen, geschweige denn zu schreiben, und wie der sich infantil mit Orden behängen ließ. Und wieder keine Bemerkung darüber, daß gerade dieser Breschnew die verheerende Entscheidung getroffen hat, die in tragischer Weise die persönlichen Schicksale von Millionen von Tschechoslowaken verändert haben. Ogonjok und Moscow news, Zeitschriften mit dem Ruf von Bulldozern der Perestroika, und ihre Chefredakteure Korotitsch und Jakowlew überwanden sich anläßlich des zwanzigsten Jahrestages des Einfalls zu Gesprächen, die nicht Fisch noch Fleisch waren, und in denen sich das Gewissen der russischen Intelligenz hinter realpolitischen und Supergroßmacht-Ausflüchten versteckte.

Ein kleiner Trost besteht darin, daß wir das alles kennen, daß wir wissen, wie große Völker von jeher eine verminderte Empfindlichkeitsschwelle in bezug auf das Schicksal kleiner Nationen haben, und daß wir uns daher also nicht wundern, den Widerhall eines empfindlichen Gewissens nur aus den baltischen Republiken zu hören. Kein Wunder, haben doch diese Nationen die gleiche Erfahrung! Und insgesamt ist es uns im Vergleich mit ihnen nicht so schlecht ergangen. Wir hatten nur Dutzende von Gefallenen, wir wurden weder nach Sibirien noch nach Kasachstan umgesiedelt, Russifizierung droht uns nicht, eher habe ich den Eindruck, daß hier nur noch Dissidenten russisch lesen. Und das Allgemeinste, z.B. die Tatsache, daß wir vor der russischen Umarmung zu den zehn entwickelsten Ländern der Erde gehörten, das ist eine Angelegenheit, die eher den Verstand als das Gewissen anspricht, denn es klebt kein Blut daran.

Ich mache große und aufrichtige Anstrengungen, um vor mir selbst diese Taubheit im Gewissen der russischen Intelligenz zu entschuldigen. Ich verstehe den Schrecken, in dem dieses Gewissen erzittert, wenn es die siebzigjährige Geschichte des revolutionären Rußland überblickt und ich fühle auch die Verzweiflung, mit der es einen festen Punkt sucht, an dem sich die nationale Identität festmachen könnte. Vielleicht bleiben ihnen keine Kräfte mehr, um das wahrzunehmen, was sie der umgebenden Welt angetan haben. Und dazu fällt mir noch etwas ein, was ich mich fast schäme zu sagen: vielleicht hat die gesamte russische Intelligenz ein Rundschreiben erhalten, in dem stand, daß aus Gründen der politischen Empfindlichkeit ihr Gewissen von Budapest und Prag einfach nicht berührt wird, dafür wird später noch Zeit sein. Wenn das wahr sein sollte, dann ist freilich der Stolz der russischen Intelligenz auf die neu gewonnene Freiheit erheblich zu bezweifeln.

Ich habe ihnen eine dreijährige Frist gegeben und jetzt bin ich enttäuscht, weil sie nicht genutzt worden ist, vielleicht waren drei Jahre für das Gewissen der russischen Intelligenz wenig, eine zu kurze Zeit für eine so große Nation. Bislang gilt Wort für Wort das, worüber Wladimir Wyssotzki gesungen hat, und was ich mir ohne Reim und ohne Metrum, aber vielleicht um so authentischer, so übersetze: Ich schaute von oben herab auf Dummköpfe und Tölpel, doch unterschied ich mich von ihnen nur sehr wenig, weil ich Budapest ohne große Gesundheitsschäden überlebte und wegen Prag es mir nicht das Herz zerriß.

Januar 1989

Milan Simecka, geb. 1930 in Novy Bohumin (Mähren), lebt in Bratislava als Essayist, Politologe und Literaturkritiker, eine der ausgeprägtesten Persönlichkeiten unter den unabhängigen Denkern und Publizisten in der gegenwärtigen Tschechoslowakei. Im Jahre 1970 entlassen aus dem Hochschuldienst, Publikationsverbot. 1981-82 dreizehn Monate in Haft, beschuldigt der Subversion. Die meisten seiner Arbeiten erscheinen im Westen (vorher publiziert im Samizdat), gedruckt in der Originalsprache sowie in vielfachen Übersetzungen.

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