piwik no script img

Liebe Schwestern und Brüder aus den Kirchen Europas

■ Zum Eröffnungsgottesdienst der Europäischen Ökumenischen Versammlung in Basel sprach Dr. Rainer Falcke, Propst in Erfurt (DDR)

IM

Diese Schrift ist erfüllt in euren Ohren“, haben wir eben gehört. Noch bevor wir anfangen, uns gemeinsam um Frieden in Gerechtigkeit zu mühen, erreicht uns die Botschaft der Erfüllung. Christus, der Bruder der Armen und Befreier der Gefangenen ist bei uns. Friede in Gerechtigkeit ist nicht zuerst eine moralische und politische Forderung, die wir erfüllen, sondern Wirklichkeit in Christus, die uns ergreift.

Große Erwartungen liegen über dieser Stunde, aber auch die skeptische Frage, ob sich die getrennten Kirchen Europas wohl auf deutliche Worte und mutige Schritte einigen können. Aber: „Diese Schrift ist erfüllt in euren Ohren.“ Friede und Gerechtigkeit haben in Jesus von Nazareth Namen, Gesicht und Stimme bekommen. Den Namen, der uns eint, den wir lieben und den zu lieben das innerste Leben unserer Kirchen ist. Bei dieser Liebe faßt uns Gottes Geist, wenn er uns in den Dienst des Friedens in Gerechtigkeit ruft. Die Frage dieser Tage kann nicht lauten: Wie politisch darf die Kirche werden? Die Frage ist, ob uns die Liebe zu Christus erfüllt, sein Friede und seine Gerechtigkeit uns bewegen, wie politisch und brisant auch immer es dann werden mag.

Jesus von Nazareth hat dem Frieden in Gerechtigkeit einen bestimmten Ort in unserer Welt gegeben. Wir finden ihn bei den Armen, denen er das Evangelium bringt. Wer am Evangelium teilhaben will, muß nun zu den Armen gehen. Wir finden ihn bei den Gefangenen, denen er das befreiende Wort sagt. Den Frieden Christi für Europa werden wir nur begreifen, wenn wir auf die Stimmen aus Lateinamerika und Südafrika hören, die uns das Evangelium als Weg der Befreiung auslegen. Wir finden ihn bei den Zerschlagenen, den zertretenen Mitgeschöpfen, den Opfern, die sich als Objekte der Mächte und Gewalten erleben. Er richtet sie auf, gibt ihnen eine Stimme und macht sie zu Subjekten ihrer Geschichte. Die belebende Macht des Christus werden wir nicht bei den Mächtigen unserer Welt, sondern bei denen erfahren, die am Boden liegen. Und Christus erleuchtet die Blinden, damit wir den Frieden in Gerechtigkeit an den Orten entdecken, wo er ihn heute für uns und mit uns aufrichten will.

Öffnen wir uns diesem Frieden Christi, der mit Macht an die Tür unserer Kirchen und unserer Herzen klopft? Wir haben um den pfingstlichen Geist gebeten. Das Symbol unserer Versammlung zeigt ihn als Taube und als Flamme. Haben wir den Mut, uns selbst, unsere Positionen und Traditionen dem läuternden Feuer des Geistes auszusetzen? Bringen wir doch am Anfang unserer Versammlung uns selbst mit dem, was wir aus Europa mitbringen, dem Geist Gottes dar, damit er uns wandle.

Wir kommen aus dem gespaltenen Europa.

Vor acht Monaten trafen sich der Rat der Katholischen Bischofskonferenzen und die Konferenz Europäischer Kirchen in Erfurt, auf der anderen Seite der Grenze, die Europa trennt. Die Lichterprozession durch die Stadt machte Station bei einer Kirchenruine aus dem Zweiten Weltkrieg, von dem die Spaltung Europas ausging. Laßt uns die Spaltung Europas dem Geist Gottes darbringen, damit wir lernen, die Lasten der Spaltung gemeinsam zu tragen und abzubauen, das Gespräch über Grenzen hinweg zu führen, den Mut zum Abbau der Waffen und zum Aufbau des Vertrauens aufzubringen; daß wir die Europäische Gemeinschaft nicht als westeuropäisches Wirtschaftsunternehmen, sondern als gesamteuropäische Friedensaufgabe begreifen.

Wir kommen aus noch getrennten Kirchen.

Die Schuld dieser Spaltung schwächt unser Zeugnis und behindert unseren Dienst. Laßt uns die Trennung unserer Kirchen dem Geist Gottes darbringen, daß wir lernen, seine Stimme aus dem Mund der Brüder und Schwestern anderer Kirchen zu hören; daß wir uns nicht sträuben, wo der Geist uns zusammenführen will; daß wir voneinander und miteinander die Schritte der Nachfolge Christi in den neuen Fragen unserer Zeit lernen.

Wir kommen aus einem Europa, wo Kräfte der Veränderung und Kräfte der Bewahrung miteinander ringen.

Im vorigen Sommer trafen sich die christlichen Gruppen und Bewegungen in Assisi, am Ort einer alten Tradition, die uns weit voraus ist. Wer heute wirklich bewahren will, muß der nicht bereit sein zu radikalen Veränderungen? Wer heute die Welt verändern will, muß er sie nicht zuerst in Liebe und Geduld verstehen? Laßt uns unsere Angst vor Veränderung und unsere Ungeduld dem Geist Gottes darbringen. Die Liebe Christi, die alles versteht, ist die Kraft der Verwandlung, die uns ergreifen will. Und die Heiligen wie Franz von Assisi zeigen uns, was der einzelne aus dieser Liebe heraus vermag.

Wir kommen aus einem Europa, das an der Welt schuldig geworden ist. Laßt uns die Schuld unserer europäischen Geschichte dem Geist Gottes darbringen, damit er uns zur Umkehr führt. Je mehr Macht von Europa ausging, desto schwächer und unerkennbarer wurde die Stimme Christi aus Europa. Vielleicht kann Christus wieder durch uns wirken und sprechen, wenn wir die Armut in unserem Reichtum erkennen und eingestehen; wenn wir noch einmal - wie am Anfang des christlichen Europas - sagen: Komm herüber und hilf uns. Aus Lateinamerika und Südafrika und Asien, kommt herüber und lehrt uns das Evangelium für die Armen, die Botschaft der Befreiung und die Ganzheit der Schöpfung. So könnte die Umkehr beginnen. So könnte von dieser Versammlung gute Nachricht für die Armen ausgehen, das Jahr der Befreiung anbrechen für die in Schuldknechtschaft Gefangenen und die zerschlagenen Mitgeschöpfe. So wird diese Schrift erfüllt in unserem Leben. Groß ist die Verheißung über dieser Stunde. Komm, Heiliger Geist, mache uns zum Werkzeug Deines Friedens!

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen