FILME MACHEN - BOMBEN LEGEN?

■ Eine Werkschau von Frederick Wiseman im Sputnik

High School: Ein Schüler wird wegen einer Prügelei vom Direktor zusammengestaucht, er versucht sich zu rechtfertigen und wird im Kasernenbrüllton niedergemacht... Law and order: Eine Nutte wird bei ihrer ersten Verhaftung von einem Cop fast erwürgt, nur damit sie kapiert, was ihr auf dem Strich noch alles blühen kann... Hospital: Eine alte Frau wird auf einer Trage von einem Krankenhaus zum nächsten transportiert, weil nirgendwo ein Bett frei ist und sie sich keine Privatklinik leisten kann... Juvenile Court: Ein Sozialarbeiter fragt ein verstörtes Mädchen, ob der Stiefvater sie sexuell mißbraucht habe, die Mutter mischt sich ein und bezeichnet das alles als Phantasie... Meat: Eine japanische Touristengruppe posiert vor einem Schlachthof (jährliche Kapazität: 128.000 Tiere) fürs Fotoalbum... The Store: Die Verkäuferinnen der Damenoberwäscheabteilung halten sich mit Aerobic fürs Weihnachtsgeschäft fit... Missile: Der telefonische Einsatzbefehl des Präsidenten wird mit Ruhe und Präzision ausgeführt; zwei Frauen (Quotierung!) fallen sich glücklich lachend um den Hals, sie haben die Simulation des Ernstfalls mit Auszeichnung bestanden und dürfen nun als Raketenoffiziere im Nuklearsilo Schichten schieben.

„Ich habe einen Horror davor, Propaganda herzustellen, die über meine eigene Sicht dessen, was das Material bedeutet, irgendeiner Art von Ideologie Vorschub leistet.“ Frederick Wisemans Filmstatements klingen manchmal etwas zu vorsichtig und einschränkend im Vergleich zu der emotionalen Wirkung und Wucht, die seine Dokumentarfilme besitzen. Seine Zurückhaltung in puncto objektiver Wahrheitsfindung und sozialarbeiterischer Erklärungssucht wird mit Blick auf seinen juristischen Hintergrund (er ist Professor für Recht an der Universität Boston) verständlich. Er zieht die vielschichtigen, offenen Betrachtungsweisen eines Themas den billigen und schnell gewonnen Einsichten, die verfilmten Vorurteilen gleichkommen, vor. „Ich mag es, wenn das Material für sich selbst spricht.“ Daran besteht bei Wisemans Dokumentationen kein Zweifel: Durch den Verzicht jeder Kommentierung der Bilder verkneift er sich wohltuend den Oberlehrer, der vorkaut, was die Zuschauer gefälligst bei dem, was ihnen vorgesetzt wird, zu verdauen haben. Er sucht nicht krampfhaft nach Bildern und O-Tönen, die er unbedingt sehen und hören will; wenn er sich mit 16-mm -Handkamera und Tonbandgerät an seinem Drehort einnistet, verweilt er dort in der Regel einen Monat lang, um alles aufzuzeichnen, was ihm wichtig erscheint: „Ich glaube nicht an eine umfangreiche Recherche vor dem Drehen. Das Drehen ist eine Recherche. Der Schnitt ist dann wie das Schreiben eines Buches.“ Die Überraschungen und Irritationen, die seine Filme beinhalten, gepaart mit der verschärften Wahrnehmung aller Aspekte eines Sujets, machen seine Filme zu spannenden, aufwühlenden Entdeckungsreisen unter die Oberfläche eines alltäglichen Schreckens, der viele gesellschaftliche Namen trägt: Schule, Knast, Jugendgericht, Psychiatrie, Krankenhaus, Schlachthof, Militär und Polizei.

Ist Wiseman einer, der Bomben legte, wenn er nicht zufälligerweise Filme drehen würde? „Meine Filme untersuchen die Beziehungen zwischen Individuen und Obrigkeit, also die Kluft zwischen der demokratischen Idee und der Praxis am Beispiel der Behörden.“ Verbaler Sprengstoff sind solche Äußerungen keinesfalls und wirken eher verharmlosend im Vergleich zu der tatsächlichen Sprengkraft seiner Filme.

Anschaulichstes Beispiel dafür ist sein 1967 entstandener Erstlingsfilm Titicut Follies. Drehort war eine psychiatrische Anstalt für „geisteskranke Kriminelle“. Mit der Begründung, daß in dem Film „die Privatsphäre der Gefangenen nicht gewahrt wird“, wurde dieser Film beschlagnahmt und darf laut Gerichtsurteil nur noch einem „fachkundigen“ Publikum (Staatsanwälten, Psychiatern und ähnlichen Konsorten) gezeigt werden, weshalb der Film auch im Rahmen dieser jetzt zusammengestellten Werkschau einfach nicht gezeigt werden darf. Was aber in Wirklichkeit nicht gewahrt ist, ist die geringste Spur von Menschenwürde für die Insassen dieser Anstalt, die, eingeknastet, psychisch wie physisch krepieren und verwahrlosen, ohne daß sich jemand einen Dreck um sie kümmert.

In den folgenden Jahren hat Wiseman dann systematisch verschiedenste amerikanische Institutionen auf ihre Mißstände hin abgeklopft. Das mythische Rebellionsjahr '68 demontiert er ganz nebenbei in High School; er zeigt den Alltag einer Schule, „die alles sein könnte, auch eine Fabrikhalle“, am Ende der Produktion ist der funktionstüchtige Staatsbürger auf dem Weg nach Vietnam und dankt herzlich der Schule für alles, was sie ihm angetan hat. In Law and Order zeichnet die Kamera den ganz gewöhnlichen Alltag einer Polizeieinheit auf, der bestimmt ist von Trunkenbolden und Kleinkriminellen, von Familienquerelen und Verkehrsunfällen; durch den Verzicht auf alles Spektakuläre, sind es die Bullen selbst, die sich durch ihre Sprüche und Brutalität denunzieren. Juvenile Court ist die juristische Ergänzung dazu: die Hilflosigkeit der Gesellschaft gegenüber jungen Straftätern, die sie selbst herangezogen hat, wird durch eine Machtmaschine kaschiert, die verurteilt und bestraft und statt zur Vernunft und Einsicht zum Haß erzieht. Das gekonnte Wechselspiel zwischen Krieg und Kapitalismus zeigen hingegen in direktem Vergleich die beiden späteren Wiseman -Filme The Store und Missile: Während in den Manageretagen des Luxuskaufhauses „Neiman-Marcus“ eine tiefenpsychologisch verkaufsfördernde Ethik gewälzt wird, begnügt man sich im US-Luftwaffenstützpunkt Brandenburg mit einer 45-Minuten-Abhandlung des leidigen Themas „Krieg und Ethik“. Verkaufen oder Vernichten: Beides ist ein rein technisches Problem, eine Frage der Organisation und Handhabe des Unsicherheitsfaktors Mensch als Konsument wie als Kriegsmaterial. Am Ende von The Store singt der Firmenchef inbrünstig „I did it my way“, aber es könnte auch einer der Soldaten sein mit dem Finger auf dem roten Knopf...

DOA

Wisman-Filme nur noch bis Sonntag im Sputnik-Wedding.