: „Ganz Peking liegt im Chaos“
■ Die Regierung der Volksrepublik bekennt vor den Studenten ihre Ohnmacht / Wieder Millionen von Demonstranten in Peking und zahlreichen anderen Städten Chinas / Druck jetzt auch von Gewerkschaften, Arbeitern, Journalisten / Gorbatschow-Besuch zu Ende
Peking (afp/dpa/ap) - Millionen Chinesen demonstrierten gestern in Peking, Shanghai und anderen Städten dem abreisenden sowjetischen Parteichef Gorbatschow, daß die chinesische Variante wirtschaftlicher Reformen ohne politische Liberalisierung gescheitert ist. Während sich Menschen aller Alters-, Berufs- und Gesellschaftsgruppen die Forderungen der Studenten zu eigen machten, beendete Michail Gorbatschow seinen viertägigen China-Besuch nach einem Aufenthalt in der ostchinesischen Industriestadt Shanghai. Zurück ließ er eine paralysierte Pekinger Regierung, der es nicht gelang, die Hungerstreikenden auf dem Platz des himmlischen Friedens im Zentrum Pekings zur Aufgabe zu bewegen. „Ganz China liegt im Chaos“, bekannte der orthodoxe Ministerpräsident Li Peng vor Studentenvertretern in der Halle des Großen Volkes.
Dabei hatten sich Li Peng und der chinesische Parteichef Zhao Ziyang in Begleitung mehrerer Politbüromitglieder ans Krankenbett entkräfteter Studenten begeben, um deren „patriotischen Geist und bemerkenswerten Patriotismus“ zu loben. Die Studenten ließen sich von dieser Geste zaghafter Dialogbereitschaft nicht beeindrucken. Sie veröffentlichten eine Reihe weiterer Forderungen: eine Dringlichkeitssitzung des Nationalen Volkskongresses und des Politbüros, die öffentliche Verurteilung der Verfasser eines Hetzartikels in der 'Volkszeitung‘, der die Studentenbewegung als eine Verschwörung gegen Regierung und System verunglimpfte, sowie Sanktionen gegen die Verantwortlichen der gegenwärtigen Situation in China.
Unterstützung fanden die Studenten nicht nur bei den Arbeitern, die gestern in Scharen durch die Straßen der chinesischen Hauptstadt zogen. Auch in Südchina, insbesondere in Hongkong, Kanton und dem portugiesisch verwalteten Territorium Macau schlossen sich Kommilitonen den Aktionen an. In Shanghai demonstrierten wie schon am Vortag Zehntausende von Akademikern, Angestellten und Arbeitern, und Tausende von Hochschülern belagerten das Gebäude der Stadtverwaltung am Hafen. In Wuhan besetzte die Menge gar eine über den Jangtse-Fluß führende Brücke und brachte damit den Eisenbahnverkehr zum Erliegen. Druck auf Partei und Regierung kommt inzwischen auch vom Gewerkschaftsverband, von ranghohen Parteifunktionären, Redakteuren der 'Volkszeitung‘, der Nachrichtenagentur 'Xinhua‘, vom Fernsehen und dem chinesischen Journalistenverband.
Das chinesisch-sowjetische Rendezvouz gipfelte am Donnerstag in einem gemeinsamen Kommunique beider Länder, daß „die Normalisierung der Beziehungen nicht gegen dritte Staaten gerichtet ist oder deren Interessen verletzt“. In einem Atemzug verurteilten die beiden Großreiche jegliches Hegemoniestreben. Zukünftig gelobte man, die Staats- und Parteibeziehungen von
den Prinzipien der Nichteinmischung, der Gleichheit und der friedlichen Koexistenz leiten zu lassen. Niemand verfüge über ein fertiges Modell für den Aufbau des Sozialismus, gestand der Kremlchef die „Irrtümer“ der UdSSR in der Vergangenheit. Nach der gestrigen Rüge Pakistans, das sich in die inneren Angelegenheiten Afghanistans einmische, unterstrich Moskau noch einmal, daß auch die inneren Probleme Kambodschas vom kambodschanischen Volk gelöst werden müßten. Gemeinsam sprachen sich die beiden potentiellen Garantiemächte für die graduelle Einstellung aller Waffenlieferungen an die Bürgerkriegsparteien aus. China begrüßte den Abzug von 75 Prozent der Sowjetkräfte aus der Mongolei und sprach die Hoffnung auf einen vollständigen Abzug in einem genau umschriebenen Zeitraum aus. sl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen