Hat Sozialarbeit jenseits der Arbeitsgesellschaft etwas zu bieten?-betr.: "Ich will leben"(Stadt-Mitte), taz vom 9.5.89

Betr.: „Ich will leben“ (StadtMitte), taz vom 9.5.89

Der Kommentar von Jörg Machel ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Einmal wird deutlich gemacht, daß es sich bei der „Randale 1989“ nicht um durch soziale Not hervorgerufene Eruptionen handelt. Für mich als lange Jahre in Kreuzberg arbeitenden Sozialarbeiter ist aber die Aussage viel interessanter, daß es darum ging, „nicht mehr Objekt irgendwelcher Sozial- und Fürsorgemaßnahmen sein zu wollen.“ (...)

1. In Kreuzberg gibt es einerseits ein überdurchschnittliches Ausmaß sozialer Not - Armut - im Vergleich zu anderen Regionen der Stadt. Die Auseinandersetzungen am 1.Mai 1989 scheinen hierdurch aber nicht hinlänglich erklärbar zu sein. Deshalb müssen wir daran arbeiten, wieder einen Begriff des Sozialen zu entwickeln, der nicht mechanistisch das Sein des Menschen allein ökonomisch bestimmt.

Hier sind neben den ökonomischen die sozialen, wohnlichen, biographischen und familialen Bedingungen sowie deren individuelle Verarbeitungsmechanismen zu berücksichtigen. Erst wenn dieses geschieht, gibt es eine Basis dafür, das Handeln von Menschen in Kreuzberg - und anderswo - zu begreifen. Dieses ist in der Vergangenheit in der Regel nicht geschehen. Es wurde oftmals einem kruden Ökonomismus gefrönt.

2. Jörg Machel hat meines Erachtens in seinem Kommentar recht und unrecht zugleich, wenn er davon spricht, daß es die KreuzbergerInnen leid seien, Objekte sozialstaatlicher Maßnahmen zu sein.

Recht, weil es nicht wenige im Kiez zu geben scheint, die ihr Leben führen wollen ohne die Dreinsprache von SozialarbeiterInnen, HelferInnen, TherapeutInnen etc.

Unrecht hat er da, wenn er verallgemeinert. Er suggeriert, als ob es in Kreuzberg nicht mehr nötig wäre, intensiv qualifizierte Sozialarbeit zu leisten. Unsere Erfahrung zeigt, daß es gerade in SO 36 viele Menschen gibt, die als „VerliererInnen des Systems“ der Beratung und Unterstützung durch SozialarbeiterInnen bedürfen. Für diese Menschen stellt sich gar nicht erst die Frage, ob sie es als angenehm empfinden, von staatlichen Stellen unterstützt zu werden oder nicht. Sie sind auf diese Unterstützung angewiesen.

Hier gibt es schlichtweg unterschiedliche Lebenssituationen, die unterschiedliche Interessen hervorbringen: das Interesse, in Ruhe gelassen zu werden, einerseits, das Interesse an Hilfe und Unterstützung andererseits.

3. Sozialarbeit in Kreuzberg muß aber spätestens nach dem 1.Mai 1989 darüber nachdenken, ob ihre bisherigen Arbeitsmuster, die in der Regel einzelfallorientiert oftmals therapeutisch erhöht - sind, noch viel hergeben für Lösungsstrategien in einem Stadtteil, in dem soziale Konfliktlagen eher Durchschnittscharakter haben. (...)

Behördliche Sozialarbeit muß sich wieder der Konzepte der Gemeinwesenarbeit erinnern, um Kiezarbeit leisten zu können. Gemeinwesenarbeit könnte die unterschiedlichen Menschen und sozialen Gruppen im Kiez zusammenbringen und somit ein Forum zur Artikulation der verschiedenen Interessen schaffen. Die Gruppen, Kinder, Jugendlichen und Eltern im Stadtteil müssen die SozialarbeiterInnen als ModeratorInnen einer Diskussion begreifen können, die sich mitverantwortlich fühlen dafür, daß in SO 36 ein „demokratischer Diskurs“, das heißt eine rationale Auseinandersetzung über die Zukunft des Stadtteils geführt werden kann.

Darüber hinaus müssen problembeladene Kinder, Jugendliche und Eltern SozialarbeiterInnen als im Stadtteil agierende, das heißt dort anwesende Menschen kennen, die als GesprächspartnerInnen und BegleiterInnen bei Problemlösungen fungieren können.

Das würde die Chance bieten, daß endlich einmal in einem solchen Prozeß der alltäglichen Nähe die Problemlagen der Betroffenen nicht ausschließlich von den HelferInnen definiert werden, sondern tendenziell von den Betroffenen selbst.

Die Formen der Gewalt, wie sie am 1.Mai zutage gekommen sind, könnten so zum Thema werden. Eine Diskussion über diese Aggressionen und Wut ist aber meines Erachtens nur dann sinnvoll, wenn sie im Alltagskontext der Betroffenen geschieht.

Sehr viel anwaltliches Handeln - vor 20 Jahren in aller Munde - könnte entwickelt werden, das über den Einzelfall hinausgehend sich auf Gruppen von Menschen bezieht - zum Beispiel im Bereich des Wohnens, der materiellen Lebenssicherung, der Freizeit etc.

Um solche Möglichkeiten kieznaher, street-work-ähnlicher Arbeit realisieren zu können, wird es nötig sein, daß alle im kommunalen und nichtbehördlichen Bereich Arbeitenden überlegen, ob Möglichkeiten bestehen, Arbeit umzuorganisieren und wie der nötige Druck geschaffen werden kann, um die notwendigen finanziellen Mittel hierfür zu bekommen.

Diese Kooperation könnte eine Bewährungsprobe für das viel beschworene Miteinander von Sozialarbeit der Kommunen, der freien Initiativen, der freien Träger etc. sein.

4. Jörg Machels Auffassung, daß nunmehr vor allem „Sinnproduzenten“ gefordert seien, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Nur: SozialarbeiterInnen können das wohl kaum sein. Jedoch sollte diese Forderung von ihm für uns Anlaß sein zu der Frage, ob wir als SozialarbeiterInnen begreifen, welchen Sinn die von unserer Arbeit Betroffenen ihrem Leben überhaupt geben wollen.

Beispielhaft sei darauf hingewiesen, daß SozialarbeiterInnen traditionell davon ausgehen, daß Lebenssinn (Selbstverwirklichung) sich vor allem über Arbeit vermittele. Das war ein beliebter Glaubenssatz sowohl für marxistisch als auch für eher konventionell orientierte SozialarbeiterInnen. Stimmt das aber so?

Unabhängig davon, daß in Zukunft aufgrund von Rationalisierungen und industrieller Modernisierung ein erheblicher Teil der Menschen ohne regelmäßige Arbeit sein werden und neue Formen von Sozialarbeit allein hierdurch herausgefordert werden, ist es doch gerade in einem Bezirk wie Kreuzberg so, daß nicht wenige - aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus - Arbeit nicht mehr als das entscheidende, das wichtigste Mittel zur Selbstverwirklichung begreifen.

Traditionelle Lohnarbeit ist mit Sicherheit bei nicht unerheblichen Teilen der Menschen in eine Legitimationskrise geraten, was ihre „sinnstiftende“ Funktion angeht. Zu fragen wäre allerdings auch, ob Arbeit nicht immer eher ein Zwang denn ein Mittel zur Selbstverwirklichung war.

Nur: Wie reagieren wir darauf? Hat die Sozialarbeit jenseits der Arbeitsgesellschaft überhaupt etwas zu bieten?

Peter Augner, Berlin 27