: Chinas Führung kann sich politischen Veränderungen nicht verschließen
ESSAY
Von Larry Jagan
Es entbehrt nicht der Ironie, wenn die Sowjetunion und China ihre 30 Jahre alten Wunden zu einem Zeitpunkt verarzten, da die chinesische Führung die größte Krise seit der Machtübernahme der Kommunistischen Partei im Jahre 1949 durchmacht. Nach einem Jahrzehnt ökonomischer Reformen steht China an einem innenpolitischen Wendepunkt, der das Land in noch tieferes Chaos stürzen könnte.
Der Handschlag zwischen Deng Xiaoping und Michael Gorbatschow wurde dramatisch in Szene gesetzt durch Tausende von Studenten, die draußen auf dem Tiananmen-Platz Demokratie oder den Tod forderten. Eine höchst peinliche Situation für die beiden Staatsmänner, von denen der eine zum Idol avancierte, während der Rücktritt des anderen als beliebtestes Gerücht im Pekinger Hexenkessel umgeht. Für die Demonstranten in den Straßen hatte das Treffen seine eigene Symbolik. Geradezu sinnbildlich für das, was die beiden unterscheidet, war der Auftritt der zwei beim Staatsbankett zu Ehren der sowjetischen Gäste - der junge dynamische Reformprediger Gorbatschow neben dem gebrechlichen Führer Chinas, der sich taub stellt für die Forderungen nach politischem Wandel.
Das erste Mal seit die kommunistische Partei vor 40 Jahren an die Macht kam, ist die politische Struktur des Landes ernstlich bedroht. Das erste Mal seit vierzig Jahren stellt das chinesische Volk öffentlich und lautstark die Macht der Kommunistischen Partei in Frage. Zunächst hatten sich die Studentendemonstrationen am Tod des ehemaligen Parteivorsitzenden Hu Yaobang entzündet, durch den Massenzulauf sind sie inzwischen außer Kontrolle geraten. Seit den Zeiten der Kulturrevolution hat China solche Studentenproteste nicht mehr erlebt, diesmal mit dem entscheidenden Unterschied, daß sie ungestraft blieben.
Obschon es den Studenten an politischer Organisation fehlt, in ihrem Ruf nach mehr Demokratie sind sie vereint. „Lang lebe die Demokratie, lang lebe die Freiheit“ und „Nieder mit Tyrannei und Bürokratie“ lauten die populärsten Parolen. „Es fehlt nur ein Funke“, zitierte gestern ein Studentenführer der Baida-Universität Maos Lieblingswendung, „um ein Feuer zu entfachen, das das gesamte Parteigebäude zum Einstürzen bringt.“
Mehr als 2.000 hungernde Studenten befinden sich in einem kritischen Zustand, die Emotionen laufen auf Hochtouren. Vor dem Tongren-Hospital schrie eine Mutter hysterisch: „Wir werden es der Regierung niemal vergeben, wenn eines unserer Kinder stirbt.“ Mit dem Tod eines der Hungerstreikenden hätte die Bewegung umgehend ihren Märtyrer und Peking, wenn nicht ganz China, stünde in Brand.
Nachdem sich Journalisten, Lehrer und Professoren mit der Forderung nach mehr Presse- und intellektuellen Freiheiten bereits letzte Woche den Studenten anschlossen, unterstützen nun auch einfache Arbeiter die Studenten. Fabrik- und Transportarbeiter, Regierungsangestellte und Parteikader, selbst Polizei und Soldaten stoßen zur Protestbewegung. Die Arbeiter des größten Pekinger Stahlwerks drohen mit einem Solidaritätsstreik.
Angesichts der akuten Probleme, die weitgehend durch das ökonomische Reformprogramm geschaffen wurden, und angesichts des zunehmenden Unmuts der Arbeiter ist der Massenprotest auf dem besten Wege, in den nächsten Tagen zu eskalieren. Offizielle und inoffizelle Streiks können sich zu einem Generalstreik in der kommenden Woche ausbreiten. Die Gefahr einer geeinten Bewegung von Studenten und Arbeitern bringt die Parteiführung aus der Ruhe. Es entbehrt auch nicht der Ironie, daß Hu Yaobang - der Held der Bewegung - seinen Job ausgerechnet in dem Moment verlor, als die Arbeiter sich vor zwei Jahren vor allem in Schanghai mit der Studentenbewegung solidarisierten.
Und es ist nicht ohne Hintersinn, daß die Forderungen der Studenten und Arbeiter sich einigermaßen widersprüchlich gegenüberstehen. Während die Studenten eine Beschleunigung der Reformen sowie des politischen Wandels einklagen, wünschen die Arbeiter, in Sorge um die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze und den Erhalt ihrer Reallöhne, implizit die Rückkehr zur früheren ökonomischen Praxis. Einig ist man sich jedoch darin, daß die Kommunistische Partei der Herd der Probleme und die Korruption - inzwischen ein Synonym für die Parteispitze - bei weitem die schlimmste Krankheit des Landes ist. Sowohl die Bauern als auch die Arbeiter nehmen den Parteioffiziellen krumm, wie jene über sie bestimmen und ständig eingreifen. Die Berichte von gewalttätigen Angriffen gegen Dorfkader häufen sich ebenso wie die Nachrichten von versuchten Anschlägen auf örtliche Parteisekretäre.
Obwohl Chinas Intellektuelle und Studenten sich zunächst begeisterten für westliche Demokratiekonzepte, entwickelte sich Gorbatschows Glasnost und Perestroika als größte Inspirationsquelle Die jüngsten Erfahrungen in der Sowjetunion und die Debatten um einen Vielparteienstaat in Ungarn oder Polen sind den Studenten Vorbild genug für eine Reform des Sozialismus. Denn immer haben die Studenten betont, daß ihnen eine Verbesserung, nicht aber die Zerschlagung des sozialistischen Systems in China am Herzen läge.
„Wir wollen Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit“, sagt Wang Dan, ein prominenter Studentenführer. Der Aufruf findet seinen Widerhall bei fast allen Demonstranten. Viele Arbeiter fordern eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung, ermutigt durch die jüngste Anerkennung der polnischen „Solidarnosc“. Eine Befürwortung westlicher Modelle sei, so Wang, nicht so verbreitet. Vielmehr gibt es kaum Zweifel darüber, daß direkte Wahlen nach sowjetischem Vorbild eine populäre Forderung ist. Bis jetzt allerdings gibt es keine konkreten Vorschläge, welche praktischen politischen Veränderungen dies implizieren und wie sie umgesetzt werden könnten. Gewiß wären Kompromisse dabei möglich. Auf jeden Fall bedeute es eine geringere politische Rolle der Kommunistischen Partei, ohne sie jedoch als die führende politische Kraft des Landes zu ersetzen. Statt dessen sollte der Nationale Volkskongreß, der die Beteiligung vieler Parteien ermögliche, mehr Macht bekommen. Als politische Minimalforderungen, die den verstärkten Ruf nach demokratischer Veränderung befriedigen sollen, gelten offene Diskussionen innerhalb der Kommunistischen Partei sowie eine freie Presse, die als eine Art Wachhund im öffentlichen Interesse agieren soll. Denn in einem sind sich alle mit den Studenten einig: Nur öffentliche Untersuchungen bilden die einzige Garantie für die endgültige Beseitigung der Korruption.
Mit den täglich zunehmenden Protesten hält sich die Partei den Studenten gegenüber einige Optionen offen. Da die Parteiführer bereits einige versöhnliche Gesten gegenüber den Studenten gemacht haben, wird das Militär kaum noch zu mobilisieren sein, die Proteste niederzuschlagen. Eher würden auch die Soldaten protestieren, wenn sie ausrücken müßten. Eine Spezialeinheit scheint bereits ein Vorgehen gegen die Demonstranten in Peking abgelehnt zu haben. „Es wäre nicht das erste Mal, daß Soldaten den Befehl, einen Protest auseinanderzutreiben, verweigert hätten“, sagt ein chinesischer Dozent. 1976, während des Volksaufstands gegen die Viererbande auf dem Tiananmen-Platz erwiderten die Kommandeure, nachdem sie zur Intervention aufgefordert wurden: „Dies ist nicht unser Problem.“
Chinas politische Führer können sich gegenüber politischen Veränderungen nicht länger verschließen. Es bleibt die Frage, wie weit die Partei in ihrem Entgegenkommen geht oder ob die Partei überhaupt überleben wird.
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