Chinas Mitte: Der Platz des Himmlischen Friedens

Öffentlicher Druck aus vielen Städten und Provinzen Chinas zeigte ersten Erfolg / Premierminister Li Peng und KP-Chef Zhao Ziyang forderten die Studenten auf, ihren Hungerstreik abzubrechen / Diskussionen drehen sich um Rücktritt Deng Xiaopings /Solidaritätsdemos in allen großen Städten  ■  Aus Peking Th.Reichenbach

Eindringlich forderten die chinesischen Spitzenpolitiker gestern früh auf dem Platz des Himmlischen Friedens die StudentInnen auf, ihren Hungerstreik abzubrechen.

„Seit Tagen ist im Stadtzentrum die normale Ordnung zusammengebrochen“, erklärt Li Peng. „Die Proteste haben ganz Peking erfaßt und greifen auf das ganze Land über. Heute ist der Pekinger Bahnhof über vier Stunden lahmgelegt worden, weil hunderte von Delegationen aus ganz China anreisen, um die Hungerstreikenden zu unterstützen. Teilweise herrschen in Peking anarchistische Zustände. Ich mache dafür nicht die Studenten verantwortlich. Deren berechtigte Fragen haben eine positive Wirkung auf die Arbeit der Regierung, aber im Ergebnis wird das gesamte gesellschaftliche Leben und die Produktion beeinträchtigt. Ich rufe Euch auf, den Hungerstreik abzubrechen und den Platz zu verlassen. Viele sind hier, um Euch zum weitermachen zu ermutigen. Ich kann das nicht billigen.“

Die Antwort der Studenten blieb nicht lange aus: „Das ist kein Dialog, sondern nur eine Begegnung. Auch wir wollen den Hungerstreik beenden, haben dafür aber Bedingungen gestellt. Für eventuelle Beeinträchtigungen des Verkehrs und der Produktion sind nicht wir, sondern die Regierung verantwortlich.“

Auf dem Tiananmen hatten sich am Samstag bei sengender Hitze weniger Menschen versammelt als in den zwei Tagen zuvor. Wer konnte, rettete sich in den Schatten der Alleebäume. Für die Hungerstreikenden sind seit gestern Omnibusse auf dem Platz postiert worden, die Schatten spenden und den Studenten nachts als Schlafquartier dienen.

Die Unterstützung der Bevölkerung hat aber auch trotz der Hitze nicht nachgelassen. Aus den Lausprechern vieler Geschäfte tönt die Internationale vom Endlos-Band, in den Schaufenstern hängen Plakate „Solidarität mit den Studenten“. Arbeiter bringen auf Kleinlastern Getränkekästen und Wolldecken. Studentische Ordner bahnen ihnen den Weg. Inzwischen sind auch viele Abordnungen aus ganz China eingetroffen, die zusammen mit der Pekinger Bevölkerung demonstrieren. Buddhistische Mönche aus verschiedenen Klöstern begrüßen den „Gewaltfreien Weg des Hungerstreiks“.

Nationale Minderheiten haben ihre Folkloregruppen geschickt, Ballerinen vom „Tanzensemble des Ostens“ verteilen Flugblätter. Freundlich aufgenommen wurde auch eine Gruppe lokaler Polizisten in Uniform, die sich im Schatten der Straßenbäume mit ihren Transparenten „Wir schweigen nicht länger“ und „Demokratische Polizisten für die Verfassung“ zum Kartenspiel niedergelassen hatten. Während sich die Autokorsos der solidarischen Betriebe im Stau verkeilten, kam die Demo der Motorradclubs auf ihren Zweirädern besser voran. Bus- und Taxifahrer transportierten die sich in Schichten ablösenden studentischen Mahnwachen und Ordnerdienste von und zu den Unis - kostenlos versteht sich. Ein alter Arbeiter ruft sichtlich ergriffen: „Daß ich das noch erleben durfte. Kinder, ich habe nicht umsonst gelebt.“ Angestellte der Hotelbranche, Apotheker, ja selbst die Forscher des „Weltraumzentrums“ zogen mit ihren Fahnen um den Platz.

In den Diskussionen drehen sich die Spekulationen um den Rücktritt Deng Xiaopings. Überall werden Plakate mit dem Bild des verstorbenen Ex-Premiers Zhou Enlai getragen, auf Transparenten steht: „Li Peng, stifte kein Chaos, Xiaoping tritt zurück.“ In allen größeren Städten Chinas ist es zu Demonstrationen der StudentInnen und Dozenten gekommen.

In Shanghai demonstrierten am Donnerstag 200.000 zur Unterstützung des Pekinger Hungerstreiks. Vor dem Sitz der Stadtregierung traten 200 Studenten selbst in den Hungerstreik. In Harbin gingen 30.000 Studenten aus 22 Hochschulen auf die Straße und überreichten eine Resolution an die Stadtregierung, in der sie eine Mobilisierung nach Peking ankündigten für den Fall, daß es zu keiner Lösung komme. In Kunming demonstrierten 20.000 Studenten und Dozenten aus acht Unis. In Hefei und Nanjing unterzeichneten über 200 Professoren einen offenen Brief, in dem die Regierung zum Einlenken aufgefordert wird. Die Studenten aus Pekings Nachbarstadt Tianjin fuhren gleich im Fahrradkonvoi nach Peking, diesmal zu mehreren Tausend. In Chengdu demonstrierten neben den Studenten auch 100.000 Menschen aus der Stadtbevölkerung.

Die Solidarisierungswelle aus der Stadtbevölkerung ist so enorm, daß das Sprecherkomitee der Hungerstreikenden am Donnerstag Mühe hatte, all die Appelle, Aufrufe und offenen Briefe an die Regierung zu zählen. Selbst die Rektoren von zehn Universitäten Pekings haben die Regierung zur sofortigen Aufnahme des Dialogs durch die Führungsspitzen in Staat und Partei aufgefordert, ein weiteres Hinauszögern sei unverantwortlich. Vier politische Parteien und mehrere Volksorganisationen wie der Frauenbund Chinas appellierten an die Regierung: „Der Staat darf die Gesundheit der Studenten nicht aufs Spiel setzen. Die Forderungen der Studenten sind berechtigt und stehen ihrem Wesen nach nicht im Gegensatz zu der KP. Wir fordern den Premier auf, selbst auf den Platz zu kommen und mit den Studenten den Dialog zu eröffnen.“ Der Schülerbund Chinas, die kommunistische Jugend und der Jugendbund Chinas mahnten die Regierung, die Reform des politischen Systems voranzutreiben und die Korruption in der Partei und der Verwaltung zu bekämpfen. Weiterhin wurde die Regierung zu Dialog und Humanismus aufgefordert. 20 Schriftsteller, darunter die auch im Westen bekannte Autorin Zhang Kangkang, schickten einen ähnlich lautenden Appell. Die Gesamtbelegschaft von zehn großen Fabriken Pekings solidarisierten sich mit den Hungerstreikenden in einem offenen Brief. So erklärten 10.000 Arbeiter der Elektroröhrenfabrik: „Wir sind über die Situation sehr besorgt. Wir bitten die Regierung, sofort und ohne Vorbedingungen den Dialog aufzunehmen und von jeglicher Art Verfolgung und Repression abzusehen, die Belegschaft erklärt sich mit den Studenten solidarisch.“

Immer mehr Betriebsgruppen schließen sich den Kundgebungen an. Ohne den Streik zu erklären, gehen viele Arbeiter nicht zur Schicht, sondern demonstrieren oder sammeln vor dem Werkstor Spenden. Die 'Volkszeitung‘ interviewte in der Hoffnung auf eine beschwichtigende Stellungnahme den Vize -Vorsitzenden des nationalen Gewerkschaftsbundes, doch erhielt er eine Abfuhr: „Die Appelle der zehn Betriebe sind Ausdruck der Stimmung unter den Belegschaften ganz Pekings. Die Arbeiter sind gegen ein Zurückdrehen der Reform und für Demokratisierung.“ Auch mehrere 1.000 Mitarbeiter von 14 Tageszeitungen, darunter auch tausend der parteiamtlichen 'Volkszeitung‘, nahmen an den Demonstrationen teil und veröffentlichten eine Aufforderung zum Dialog. Die Zeitungen haben das Totschweigen der Proteste gebrochen und sich für die Berichterstattung über den Hungerstreik geöffnet.

Der Besuch Gorbatschows, den die Bevölkerung kaum miterleben konnte, rückte in den offiziellen Medien sogar in den Hintergrund, die Titelseiten galten den Massendemonstrationen. Diese Öffnung ist vor allem für die Provinzen von großer Bedeutung, die so erst vom Ausmaß der Proteste erfahren. Viele hatten gehofft, daß mit dem Abflug Gorbatschows der Weg für eine Lösung frei wird. Gestern morgen dann hat der öffentliche Druck auf die Regierung erstmals sichtbare Wirkung gezeigt, als Premier Li Peng und Zhao Ziyang für die Partei auf den Tiananmen-Platz kamen, um mit den Hungerstreikenden zu sprechen.