: Im Reißwolf des 'Spiegel‘
■ Der neue 'Spiegel'-Titel ist da - Alexander Parlach widmet sich noch einmal dem alten
In Nr. 20 vom 15.Mai 1989 heißt die Titelgeschichte: „Warum haben wir keine Zeit?“, der Untertitel lautet: „Im Reißwolf der Geschwindigkeit“. Der Beitrag zieht sich über die Seiten 200 bis 222 hin, unterbrochen wie üblich von Reklame, aber insgesamt doch von stattlicher Länge. Anzunehmen, wir Leser würden nach der Lektüre dieser Fleißarbeit wissen, warum wir Zeit haben, drei oder vier Stunden mindestens vor dem Fernseher zu verbringen, und ob da vielleicht ein Zusammenhang zu dem Problem besteht, daß wir uns im „Reißwolf der Geschwindigkeit“ befinden. Sehen wir uns an, wie uns diese Aufklärung zuteil wird:
Schon Marx hatte vorhergesagt, alle Ökonomie werde schließlich zu einer „Ökonomie der Zeit“, und heutzutage beklagt (...) der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, 59, „daß unsere Zeit unter einer merkwürdigen Krankheit leidet, die ich Aktionismus und Hektik nenne“ (...) Der Berliner Soziologieprofessor Dietmar Kamper, 52, spricht von der „sterbenden Zeit“. (...) Der ebenfalls an der FU lehrende Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf, 44, sieht die Gesellschaft unter dem Diktat einer „Chronokratie“. (...) „Die Krise der Zeiterfahrung hat viele Gesichter“, sagt der Bremer Soziologieprofessor Rainer Zoll, 54. „Zeit-Kritik ist die aktuellste Form von Kultur -Kritik“, beobachtete Rudolf Wendorff, 74. (...) Kaum daß eine „hypereffiziente Nanosekunden-Kultur“ begonnen hat, treten die „Zeitrebellen“ auf: Der Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin, 43, der diesen Begriff in seinem neuen Buch Time Wars prägte, ist selber einer. (...) „Ökonomisches Wachstum erzeugt eine steigende Knappheit von Zeit“, so hielt der schwedische Wirtschaftswissenschaftler Stafan Linder, 57, schon 1970 der „harried leisure class“ vor, jener ruhelosen Klasse von Wohlstandsmenschen. (...) Der Krieg „ist bereits ein Zeit -Krieg“, sagt der Pariser Geschwindigkeitstheoretiker und Professor für Urbanistik, Paul Virilio, 56. (...) „Ohne Zweifel war es einer der genialsten Gedanken des Menschen zu messen, was der Inbegriff des Flüchtigen (...) ist, die Zeit“, schrieb Thomas Mann in seinem Zauberberg.
Hier wird der 'Spiegel‘ sich selbst untreu, der Leser erfährt nicht, wie alt Thomas Mann war, als er den Zauberberg schrieb. Eine Unterlassung, die den gelernten 'Spiegel'-Leser in Verwirrung stürzt. Die Fehlleistung wiederholt sich.
„1884 wurde das Konzept einer Weltzeit geboren, (es) erschien aus der Phantasie des britischen Erzählers Herbert Georg Wells (?) die Figur eines Zeitreisenden, der sich mit seiner Zeitmaschine vor- und rückwärts bewegen konnte (...) Es ist, als ob ein Naturgesetz angesagt wurde: „Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig (...)“, wie der Begründer der klassischen theoretischen Physik, Isaac Newton, vor 302 Jahren erklärt hatte (...) Wie der (1980 gestorbene) Schweizer Professor für experimentelle Psychologie Jean Piaget nach seinen minutiösen Experimenten mit Kindern darlegte, wird die Zeit (...) konstruiert durch das Vergleichen und Koordinieren verschiedener Geschwindigkeiten: „Die Zeit verstehen heißt also, durch geistige Beweglichkeit das Räumliche überwinden“ (...) Kinder sind von Momo beeindruckt, einem von dem alternativen Märchenerzähler Michael Ende, 59, erfundenen Lumpenmädchen, das unheimliche graue Herren beim Diebstahl der Zeit ertappt. (...) Die Natur bewegt sich fast gar nicht im Vergleich zur Computer-zeitwelt, so fiel dem US-Aussteiger Jerry Mander, 52, auf. (...) Neuerdings ist die von dem belgischen Physiko-Chemiker und Nobelpreisträger Ilya Prgogine, 72, formulierte Sichtweise interessant geworden (...) Durchaus folgerichtig nennt Helga Nowotny ihr gerade erschienenes Buch Eigenzeit (...) Eine Reihe von Schriftstellern, von Garcia Marquez bis Isabel Allende, von Günter Grass bis Salman Rushdie, haben die Traumzeitperspektive belebt.
Wer möchte nach dieser Probe einer angelesenen, zusammenmontierten, wolkenbruchartigen Zitierorgie noch daran zweifeln: Der 'Spiegel‘ weiß mehr! Die Frage ist nur: Was weiß der Leser? Hat er erfahren, wie er sich davor schützen kann, durch den „Reißwolf der Geschwindigkeit“ gedreht zu werden? Man möchte annehmen, daß nicht - aber dem ist nicht so:
Es entwickelt sich ein Anti-Zeitgeist der Langsamkeit, wie ihn der Sensibilist Peter Handke bereits seit einem Jahrzehnt kultiviert. Wie das? Er kehrte aus der schnellen Metropole Paris heim nach Österreich, in das langsame Salzburg (mit seinen zig Millionen Touristen!), und seitdem ist für ihn die Langsamkeit „ein Lebens- und Schreibprinzip“.
Das ist die Lösung - oder etwa nicht? Sie wohnen gar nicht in Paris? Sie wollen gar nicht nach Salzburg? Ja dann, hinein in den Reißwolf!
Die Autorin Ariane Barth (??) ist Mitglied der 'Spiegel' -Redaktion. Sie hat mit diesem Beitrag die vermutlich vollkommenste Parodie auf die Informationsmasche ihres Blattes geliefert, die darin je zu finden war. Gewollt oder ungewollt? Vermutlich das letztere. Durch eine blaue Brille sieht man blau nicht.
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