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Wie wird eine Hungerkrise produziert?

Seit die peruanische Regierung unter Staatspräsident Alan Garcia im letzten Jahr auf eine IWF-orientierte Wirtschaftspolitik einschwenkte, ist die Agrarwirtschaft des Landes Perus in eine schwere Krise gestürzt worden / In den Städten werden die Lebensmittel knapp / Kleinbauern protestieren gegen die Verelendungspolitik  ■  Von Gabriela Simon

„Abends in der Dunkelheit sind unsere Männer immer hinuntergegangen und haben die Steine auf die Straße geschafft.“ Angelica berichtet von den Streikaktionen, mit denen die Kleinbauern der peruanischen Andenregion Cusco gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung protestieren. Mehrere Wochen lang haben die Campesinos die Märkte boykottiert, Straßen blockiert und auf Demonstrationen lautstark ein Ende der Verelendungspolitik gefordert. Hier begann die Streikbewegung, die sich rasch auf weitere Regionen des Landes ausdehnte und die die politischen Führer der Bauernbewegung regelrecht in Begeisterung versetzte. Von einem „historischen Streik“ sprach die Bauernvereinigung CCP, und der peruanische Bauernführer Hugo Blanco versicherte, in seinen 30 Jahren Erfahrung in der peruanischen Bauernbewegung „nie einen Streik mit so breiter Beteiligung erlebt“ zu haben.

Anpassung

an den Weltmarkt

Angelica berichtet aber auch von der Angst, die sie hatten, als Tag für Tag die gefürchteten „Sinchis“, die Aufstandsbekämpfungseinheiten des Militärs, auf ihren Lastwagen durchs Tal ratterten und die Steine wieder von der Straße räumten. Das Massaker von Pucallpa, wo die Polizei im Februar acht Campesinos während einer Demonstration erschossen hatte, hinterließ auch hier Spuren der Angst.

Perus Bauern stehen mit der Regierung auf Kriegsfuß. Seit Staatspräsident Alan Garcia im September letzten Jahres endgültig auf eine wirtschaftspolitische Schocktherapie nach dem Strickmuster des IWF einschwenkte, seit die Anpassung an den Weltmarkt mit dem Abbau von Subventionen in großen Schritten vorangetrieben wird, wurden zahlreiche Bauern an den Rand des Ruins gebracht, und in vielen Bauernfamilien ist der Hunger zu einem ernsten Problem geworden.

Hier im „Valle Sagrado“, dem einst „heiligen Tal“ der Inkas, sieht es eigentlich gar nicht nach Hunger aus. Jetzt in der Regenzeit, wenn das Dorf im Schlamm versinkt und der Fluß ganz unten im Tal die Viehweiden unter Wasser setzt, ist die weithin gerühmte Fruchtbarkeit dieser Gegend buchstäblich mit Händen greifbar. Der Mais steht hoch und kräftig auf den Feldern, und die meisten Bauern, die hier im peruanischen Andenhochland die überwiegend kargen Böden bearbeiten, wünschten sich ein solches Stückchen Land.

„Salz, Kerosin, Schulhefte, Bleistifte...“, Domingo, Angelicas Mann, zählt die unverzichtbaren Dinge auf, die auf dem Markt gekauft werden müssen. Angelicas Küche in dem niedrigen Lehmhaus ist 2 mal 3 Meter groß, durch eine kleine Öffnung in der Wand fällt spärliches Licht; neben Angelica und Domingo beherbergt diese Küche zur Zeit fünf Kinder, ein Kalb, Hund und Katze und mindestens 15 Meerschweinchen, die auf dem Erdboden unruhig von einer Ecke zur anderen flitzen. „Kleinigkeiten“ wie Brot, Salz, Zucker oder Schulhefte sind es, die Angelica und Domingo zur Zeit am meisten Kopfzerbrechen bereiten.

2.000 Prozent Preissteigerung

Eigentlich sind sie Subsistenzbauern, die in erster Linie für den eigenen Bedarf produzieren. Seit die Regierung mit einer rigorosen „Sparpolitik“ versucht, dem Staatsdefizit und der Finanzkrise zu Leibe zu rücken, zieht die Krise auch ihnen den Boden unter den Füßen weg. Mit dem Abbau der Subventionen haben sich die Preise für Saatgut, Düngemittel und Agrarkredite vervielfacht. Um bis zu 2.000 Prozent sind die Produktionskosten der Bauern seit letztem September gestiegen, während sich die Preise für die andinen Produkte wie Kartoffeln, Mais und Bohnen nur geringfügig erhöhten. Wie die Bauernvereinigung CCP errechnete, entsprechen die durchschnittlichen Kosten für die Bestellung eines Hektars mit Kartoffeln im September letzten Jahres dem Preis von 800 Kilo Kartoffeln, im März waren es 6.000 Kilo.

Inzwischen sind nicht nur die kleinen Annehmlichkeiten des Marktes wie Brot, Zucker oder Batterien für das Kofferradio zu fast unerschwinglichen Luxusgütern geworden. In den ärmeren Bauernfamilien wird gehungert. Besonders alarmierend ist die Tatsache, daß viele Bauern kein Geld haben, um ihr Land zu bebauen. Bei den sechs wichtigsten Produkten der Andenregion ist die bestellte Fläche in diesem Jahr um mehr als ein Viertel geschrumpft, und auch dort, wo ausgesät wurde, fehlt häufig Geld für Düngemittel, so daß das Ernteergebnis noch schlechter ausfallen wird. In der am stärksten betroffenen Region Cusco, wo die Bauern zusätzlich mit schlechtem Wetter zu kämpfen hatten, wird mit Verlusten bis zu 60 Prozent gerechnet. Und die Krise der Bauern wird nicht ohne Folgen für die städtische Bevölkerung bleiben. Da der landesweite Rückgang der Produktion von Grundnahrungsmitteln mit einer Situation extremer Devisenknappheit zusammenfällt, sehen viele Beobachter die Gefahr einer Hungersnot.

Für Saatgut kein Geld

14,5 Hektar Maisfelder x Kilo Mais y Intis; Domingo und Narciso sitzen beim Mittagessen und wälzen Zahlen im Kopf. Wieviel Kilo Mais sind zu erwarten, welchen Preis kann man fordern? Ein Großhändler hat angeboten, ihnen den ganzen Mais noch vor der Ernte abzukaufen. Das Geld wird dringend gebraucht, um Saatgut für die Kartoffelaussaat zu beschaffen. Aber Narciso und Domingo kennen nicht einmal den aktuellen Marktpreis für Mais in Cusco. Auf welcher Grundlage sollen sie verhandeln? Wie können sie verhindern, von dem Großhändler maßlos übers Ohr gehauen zu werden? Eine Fahrt in die Stadt, zur Erkundung der Preise, kostet viel Geld.

Die 14,5 Hektar Mais, die verkauft werden sollen, gehören zum gemeinschaftlich bewirtschafteten Land der Communidad, der Dorfgemeinschaft. Auf diesem Land wird hauptsächlich für den Markt produziert, und trotzdem - oder gerade deshalb, wie einige vermuten - bringt es den beteiligten 100 Familien kaum etwas ein und ist Quelle ständiger Unzufriedenheit. Jetzt steht die Kartoffelaussaat vor der Tür und es gibt nicht einmal Geld für das Saatgut.

An halsabschneiderischen Angeboten allerdings ist kein Mangel. Neben dem Großhändler gibt es noch einen Ingenieur des Agrarministeriums, der eigentlich dafür bezahlt wird, die Communidad zu beraten. Er bot ihnen das dringend benötigte Saatgut an und forderte im Gegenzug die Hälfte der Ernte. „Wie früher unter dem Großgrundbesitzer“, kommentiert Domingo nicht ohne Verbitterung. 20 Jahre nach Beginn der peruanischen Agrarreform wachsen den Kleinbauern die Kosten und die Schulden über den Kopf und verstricken sie in Ausbeutungsstrukturen, die längst der Vergangenheit angehören sollten.

Mit großen Ambitionen und radikalen Versprechungen war die peruanische Agrarreform einst in Angriff genommen worden. Ihre Geschichte aber ist bis heute eine Geschichte der systematischen Vernachlässigung der andinen Landwirtschaft, eine Geschichte von Kleinbauern, die in absoluter Armut der Abhängigkeit von Großhändlern und Geldverleihern überlassen bleiben; die Geschichte einer Region, für die der Staat kaum jemals etwas übrig hatte, da sie für die Entwicklung des Kapitalismus in den Städten ohnehin als „unbrauchbar“ galt.

Die harte Realität des Andenhochlands mit seinen kargen Böden spielt dabei eine Rolle, die Tatsache, daß sich die andine Landwirtschaft nie mehr von der Zerstörung der inkaischen Agrarkultur durch die Spanier erholt hat, aber auch der passive Widerstand der Indios gegen ihre Integration in die kapitalistische Entwicklungslogik. „Entwicklungspotentiale“, die die Landwirtschaft im Dienste der kapitalistischen Entwicklung nutzbar machen können, wurden hauptsächlich in der schmalen Küstenregion entdeckt, wo in großflächiger Plantagenwirtschaft für den Bedarf der Städte produziert wird. Hier konzentrierten sich auch die staatlichen Förderungsprogramme.

Importe subventioniert

Die dauerhafte Vernachlässigung des größten Teils der einheimischen Landwirtschaft war indessen nur möglich, weil und solange der zunehmende Nahrungsmittelbedarf der Städter über den Weltmarkt befriedigt werden konnte. In Zeiten, in denen der unkontrollierte Zustrom ausländischer Kredite die Weltmärkte öffnete, schien die wachsende Abhängigkeit von Lebensmittelimporten auch kein Problem zu sein. Erst mit dem Beginn der Schuldenkrise wurde der Preis dafür sichtbar: Auslandsschulden, Stagnation der einheimischen Landwirtschaft, Abhängigkeit der Lebensmittelversorgung von den Weltmarktkonjunkturen.

„Wir wollen ja nicht mehr, als daß die Regierung die peruanischen Bauern genauso subventioniert, wie sie bisher die Lebensmittelimporte subventioniert hat“, begründet Alejandro Quispe von der CCP in Cusco die Forderungen der Bauern nach Preissubventionen für ihre Produktionsmittel, nach zinslosen Krediten und höheren Preisen für ihre Produkte. Tatsächlich waren gerade die importierten Lebensmittel durch massive Subventionen zusätzlich verbilligt worden, um sie für die verarmte Bevölkerung in den Städten erschwinglich zu machen.

Zum Beispiel Getreide, der mit Abstand größte Ausgabeposten bei den Nahrungsmittelimporten: Bevor das Getreide auf dem Tisch der peruanischen Konsumenten landet, ist es dreimal subventioniert worden; einmal im Erzeugerland (zumeist USA oder EG), dann durch einen speziellen, subventionierten Wechselkurs für Lebensmittelimporte und drittens durch indirekte Preissubventionen in Peru. Mit einem ungeheuren Geldaufwand wurden so die städtischen Konsumgewohnheiten von den einheimischen Produkten wegorientiert.

Mehr Importe

Ein anderes Beispiel ist Reis, der vor allem im dynamisch -kapitalistischen Agrarsektor der Küste produziert wird. Bis zum Beginn des Subventionsabbaus im vergangenen September waren Kartoffeln und Mais mehr als dreimal so teuer wie der stark subventionierte Reis. Als absolut billigstes Grundnahrungsmittel hatte sich der Reis nicht nur in den Städten, sondern teilweise auch auf dem Land durchgesetzt. Mit der Schuldenkrise und der Verelendung der Bevölkerung wuchs die Nachfrage nach Reis als billigstem Grundnahrungsmittel noch an; so sehr, daß zunehmend Mengen davon importiert werden müssen.

Seit Beginn der rigorosen „Sparpolitik“ im September letzten Jahres ist das Verhältnis von einheimischer Nahrungsmittelproduktion und Importen vollends auf den Kopf gestellt. Um sich den veränderten Weltmarktbedingungen anzupassen, um trotz des ständigen Kapitalflusses zu überleben, mußte die Regierung die Staatsausgaben drastisch einschränken. Aber je radikaler die Subventionen abgebaut werden, desto mehr Nahrungsmittel müssen importiert werden; und je konsequenter die Anpassung an den Markt vollzogen wird, desto größer wird die Lücke zwischen dem Bedarf und der schrumpfenden einheimischen Agrarproduktion. Nach einer Welle von Preiserhöhungen ist Reis mittlerweile fast so teuer wie Kartoffeln oder Mais, aber nach wie vor das preisgünstigste Grundnahrungsmittel. Deshalb ist trotz der Preiserhöhungen die Nachfrage nach Reis noch gestiegen. In den Armenvierteln der Städte hat der Subventionsabbau einen so brutalen Verelendungsprozeß ausgelöst, daß sich viele Familien fast ausschließlich von Reis ernähren, weil es das einzige ist, was sie sich noch leisten können. Verrückterweise mußte deshalb nach der Verteuerung so viel Reis wie nie zuvor importiert werden.

Leere Einkaufstaschen

Die Kosten der Nahrungsmittelimporte hatten schon im letzten Jahr eine Rekordhöhe von 600 Millionen Dollar erreicht - ein Viertel der gesamten Exporterlöse des Landes. In diesem Jahr wird trotz - oder vielmehr wegen - der staatlich verordneten Verelendungspolitik eine noch größere Menge importiert werden müssen, um die Krise der einheimischen Landwirtschaft auszugleichen. Mit der sich verschärfenden Devisennot wächst die Gefahr einer Hungerkrise. Schon seit Anfang dieses Jahres führt die Devisenknappheit immer wieder zu Versorgungsengpässen bei den Grundnahrungsmitteln. Tagelang ist in ganz Lima die billigste Reissorte nicht zu bekommen, und die Hausfrauen stehen oft ab 6 Uhr morgens Schlange und müssen mittags mit leeren Einkaufstaschen wieder nach Hause gehen.

Angelica und Domingo wissen wenig von der Not und der Lebensmittelknappheit in den Städten, denn Zeitungen lesen sie natürlich nicht und das Kofferradio ist verstummt, seit für Batterien kein Geld mehr da ist. Sie wissen auch nichts davon, daß in der Küstenregion die Produktion von Spargel, Tomaten und Mangos für den Export mit staatlichen Geldern gefördert wird, während sie, die Produzenten der Grundnahrungsmittel, sich selbst und der Krise überlassen bleiben. Die Lösungsstrategien, über die sie sich jetzt den Kopf zerbrechen, gehen von ihren eigenen Erfahrungen und Bedürfnissen aus.

Angelica denkt über Möglichkeiten nach, sich planvoll und gezielt vom Markt unabhängiger zu machen, so „daß wir nicht mehr jeden Tag an das Geld denken müssen“. Man könnte, überlegt sie, die Ernteeinnahmen in diesem Jahr dazu verwenden, um die allernötigsten Dinge wie Salz und Kerosin in großen Mengen zu beschaffen und gleichzeitig Saatgut für verschiedene Gemüsesorten zu kaufen.

Aber auch das wäre nur ein Notprogramm, denn eigentlich will hier niemand auf die wenigen Produkte verzichten, die der Markt bisher gebracht hat. Mit ihrem Streik haben die Bauern klargestellt, wo für sie die Grenzen der Ausbeutung durch den Markt liegen. Und sie haben ein deutliches Warnsignal gegeben. Einen längerfristigen Boykott der Märkte könnten sie immer noch besser verkraften als die Bewohner der Städte.

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