: Multikulturell als Kampfbegriff
■ Die Grünen und der Ruf nach offenen Grenzen
Multikulturelle Gesellschaft - was kann das eigentlich sein? Die verabschiedete Resolution auf dem Parteitag der Grünen beschreibt auf zwei Seiten ausführlich den wachsenden Rechtsradikalismus und die Ausländerfeindlichkeit - zu den Inhalten und Konfliktfeldern einer multikulturellen Gesellschaft fällt kein Wort. Vielmehr wird in einer selbstgerechten Weise die weitestgehende aller Wohltaten verordnet: offene Grenzen. Wer ein allgemeines Bleiberecht formuliert, muß sagen, wo die politisch Verfolgten bleiben sollen, wenn die Aussiedler und die vom berechtigten Wunsch nach einem besseren Leben eingereisten Menschen das Boot gefüllt haben. Mit praktischer Politik hat das wenig zu tun; unberücksichtigt bleibt auch, daß die Bundestagsfraktion jüngst Gesetzentwürfe einbrachte, die Aufenthaltsrecht, Niederlassungsrecht und verbesserte Bedingungen zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft beinhalten. Alles Makulatur?
Die Resolution bestätigt damit, was im Motto des Parteitags angelegt war: Die „multikulturelle Gesellschaft“ dient in Wirklichkeit nur als Kampfbegriff der guten Deutschen, der moralisch Integren gegen die Rechten im Lande. Außer acht bleibt, daß die Vision einer multikulturellen Gesellschaft nicht für die Ausländer, sondern nur mit den Deutschen verwirklicht werden kann. Als Streitbegriff gegen rechts wird der positive Gehalt verschlissen; zu einer wünschenswerten Umgestaltung der Bundesrepublik trägt das nicht bei. Wer dieser Gesellschaft Maximalforderungen überstülpt, verstärkt nur die Abwehr
und sorgt dafür, daß die AusländerInnen selbst die Leidtragenden sind.
Nehmen die Grünen ihre eigenen Analysen nicht ernst? Wenn es richtig ist, daß gerade die Unterschichten zunehmend rechts wählen aus Angst vor einer unübersichtlichen Zukunft, warum soll dann ausgerechnet die Vision der multikulturellen Gesellschaft die Ängste bannen?
Als Beobachter wird man den Eindruck nicht los, die Mehrzahl der Grünen sei innerlich überzeugt, daß die gewaltige Umstrukturierung der Bundesrepublik, der sie das Wort reden, sie überhaupt nicht betreffe. Gemeint ist immer nur ein miefiges Restdeutschland, fernab der eigenen Lebensverhältnisse. Nicht nur, daß das unwahr ist - ausgeblendet werden etwa die versteckten Rassismen der Sozialarbeiterhaltung der Linken für die Ausländer oder die offene Wut von Kreuzberger Szenefrauen über manche Macho türken -, es ist auch ein Stück Klassenkampf von oben darin. Die Linke, gewandt, gebildet und gutverdienend, kann sich soziale Probleme leichter vom Hals halten: Kreuzberg mit dem multikulturellen Kolorit - wunderbar, aber dort wohnen? Das soll nicht heißen, man solle nicht gesellschaftliche Zukunftsbilder entwerfen. Aber ohne die Anerkenntnis von Ängsten - da hat Cohn-Bendit recht - werden diese Menschen nicht zu gewinnen sein. Die pauschale Forderung nach offenen Grenzen, die bei den Menschen im Ohr hängen bleiben wird, dient der guten Absicht kaum.
Gerd Nowakowski
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