: Ein „Mörderbienen-Mythos“ vor Gericht
Noch ist nicht klar, ob sich die Krankenschwester Michaela Roeder des 17fachen Mordes oder „nur“ des Totschlags schuldig gemacht hat / Staatsanwaltschaft hält an ihrer These von der „eiskalten Mörderin“ fest / Sachverständige: verminderte Schuldfähigkeit / Beweisaufnahme zieht sich hin / Urteil nicht vor Herbst ■ Von Johannes Nitschmann
Wuppertal (taz) - Für die Boulevardpresse ist das seit rund fünf Monaten laufende Verfahren gegen die wegen 17fachen Mordes angeklagte Krankenschwester Michaela Roeder (30) vor dem Wuppertaler Schwurgericht vom ersten Verhandlungstag an ein „Sensationsprozeß“ gewesen. Weil hier aber an den ersten Prozeßtagen wegen der anhaltenden Auseinandersetzungen um Gutachter und Beweisanträge ein ausgesprochen zäher Stoff verhandelt werden muß, der die Leser der Groschenblätter kaum elektrisiert, wird alleine schon der Auftritt der Angeklagten zu einer einzigen Sensation hochgeschrieben, mit allen dichterischen Freiheiten: „Todesengel spielt vor Gericht den Star - Fotografen flirten mit mörderischer Krankenschwester“, titelte reißerisch das Münchener Boulevardblatt 'tz‘ die Prozeßeröffnung in Wuppertal.
In welchem Gerichtssaal die findigen 'tz'-Reporter solche Szenen auch immer gesehen haben wollen, eine öffentliche Vorverurteilung der Angeklagten als „mörderische Krankenschwester“ rechtfertigt dies keinesfalls. Immerhin will sich das Wuppertaler Schwurgericht mindestens noch bis zum Herbst dieses Jahres Zeit nehmen, um unter Hinzuziehung von über 40 Zeugen und acht Sachverständigen in einer langwierigen Beweisaufnahme zu klären, ob die angeklagte Krankenschwester, die die Tötung zahlreicher Patienten selbst gestanden hat, tatsächlich eine Mörderin ist. Gleich zu Prozeßbeginn hatte die 5.Große Strafkammer an alle Verfahrensbeteiligten den „rechtlichen Hinweis“ erteilt, daß Michaela Roeder statt wegen Mordes möglicherweise wegen Totschlags verurteilt werden könnte, was zu einer erheblich milderen Bestrafung führen müßte.
Dies wiederum hat offensichtlich die Staatsanwaltschaft alarmiert, die unbeirrt an ihrer Mordthese festhält. Der Ankläger, Staatsanwalt Karl-Hermann Majorowsky (44), ist nach dreijährigen Ermittlungen zu dem Ergebnis gekommen, daß die in Wuppertal auf der Anklagebank sitzende Krankenschwester eine „eiskalte Mörderin“ sei, die 17 Patienten im Alter zwischen 53 und 94 Jahren auf der Intensivstation des örtlichen St.-Petrus-Krankenhauses eine tödliche Injektion gespritzt und sich damit „als Herrin über Leben und Tod aufgespielt“ habe. Es muß den Staatsanwalt Majorowsky offenbar schwer getroffen haben, daß das Gericht gleich zu Prozeßbeginn seine für ihn „völlig wasserdichte“ Mordanklage mit diesem rechtlichen Hinweis in Zweifel gezogen hat.
Mitleid als Motiv
Den Auslöser für die Nachdenklichkeit der Kammer über Motive und Hintergründe der Tötungsserie in dem Wuppertaler Krankenhaus sieht Ankläger Majorowsky offenbar in den vorläufigen Gutachten der auf seinen eigenen Vorschlag hin vom Gericht bestellten Sachverständigen, dem Psychiater Eberhard Schorsch und dem Psychologen Herbert Maisch. Diese beiden in der Fachwelt über einen ausgezeichneten Ruf verfügenden Hamburger Gutachter, die die Angeklagte acht Monate lang auf mögliche psychische Erkrankungen untersucht haben, kommen - jedenfalls vorläufig - zu dem Befund, daß Michaela Roeder eben nicht aus purer Mordlust, sondern aus Mitleid mit den Patienten (und vielleicht auch mit sich selbst) die tödlichen Injektionen spritzte. Der Vorsitzende Richter Rolf Watty (53) sprach gleich am ersten Verhandlungstag von „überraschenden“ Gutachter-Ergebnissen.
Zudem lassen die beiden renommierten Sachverständigen in ihrem annähernd 200 Seiten umfassenden Vor-Gutachten - ein endgültiges Gutachten werden sie am Ende der Beweisaufnahme zu erstatten haben - ausdrücklich offen, ob die Krankenschwester aufgrund ihrer subjektiven Überforderung und möglicher krankhafter seelischer Störungen im Zustand einer „verminderten Schuldfähigkeit“ gehandelt haben könnte
-was ihr mit Sicherheit eine lebenslängliche Freiheitsstrafe ersparen würde. „Alleine um diese Frage dreht sich der ganze Prozeß“, sagt ihr Verteidiger Siegmund Benecken, der sich zu den sogenannten „Star-Anwälten“ zählt und der Angeklagten über die 'Bild'-Zeitung vermittelt worden sein soll, wofür wiederum die rege Mitteilsamkeit der Angeklagten gegenüber dem Boulevardblatt spricht.
Der Staatsanwalt, der durch diese Gutachten das Fundament seiner Mordanklage gründlich erschüttert sieht, hält die beiden von ihm zunächst im Einvernehmen mit der Verteidigung selbst vorgeschlagenen Gutachter inzwischen für „befangen“, ihre Neutralität gegenüber der Angeklagten sei nicht mehr gewahrt: Während der für eine Exploration ungewöhnlich langen Zeit von acht Monaten ist nach Überzeugung des Staatsanwaltes „eine Therapie-Beziehung“ zwischen Michaela Roeder und den Gutachtern Schorsch und Maisch gewachsen. Statt die Motive für die Verbrechen mit der Angeklagten aufzuarbeiten, seien die Vorgänge auf der Intensivstation, deren Zustände ein eigenes Buch füllen würden und vermutlich sogar einen weiteren Prozeß gegen leitendes Klinikpersonal notwendig macht, von der Krankenschwester mit Hilfe der Gutachter „seelisch verarbeitet“ worden, rügt der Staatsanwalt: „Damit ist die Wahrheit verschüttet worden. Die Gutachter haben ihre Aufgabe verkannt.“
Daß Majorowsky als weiteren Gutachter nun gerade den als erzkonservativ geltenden Psychiater, Professor Dr.Dr.Paul Bresser (auf diese Anrede legt er vor Gericht viel Wert), aufgeboten hat und vom ersten Prozeßtag an als „präsentes Beweismittel“ stellt, hat ihm vom 'Spiegel‘ den Vorwurf des „Jagdeifers“ eingebracht. Der Psychiater Bresser, der noch niemals zuvor einem Mörder Schuldunfähigkeit attestiert haben soll, hat im Jahre 1967 - ebenfalls vor diesem Wuppertaler Schwurgericht - mit einem „voll verantwortlich“ sozusagen das Fundament für eine lebenslängliche Verurteilung des Kindermörders Jürgen Bartsch gelegt, die später vom Bundesgerichtshof (BGH) wieder aufgehoben worden ist.
Zweifelsohne hat Staatsanwalt Majorowsky ausgesprochen gründlich ermittelt in dieser „Mordsache Roeder“, wie er den Fall von Anfang an zu bezeichnen pflegte. Anfang 1986 war der Klinikleitung des Wuppertaler St.-Petrus-Krankenhauses gegen die in dieser Sache ein gesondertes Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung und betrügerischer Abrechnungspraktiken läuft - aufgefallen, daß ungewöhnlich viele PatientInnen auf der Intensivstation starben, wenn Schwester Michaela Dienst hatte. Von ihren KollegInnen wurde die Angeklagte deshalb bereits scherzhaft „Todesengel“ genannt. Nachdem sich der Verdacht gegen die im KollegInnenkreis stark introvertiert wirkende Krankenschwester erhärtet hatte, ließ die Staatsanwaltschaft seit 1978 mehr als 500 Todesfälle in dem Wuppertaler Krankenhaus untersuchen. In 38 dieser Fälle stießen die Ermittler nach dem Studium der Krankheitsblätter und Sterbeurkunden auf eine mehr oder weniger dubiose Todesursache.
Daraufhin ließ die Staatsanwaltschaft, zum Teil gegen den erbitterten Widerstand der Angehörigen (ein Witwer, der Tag und Nacht das Grab seiner verstorbenen Gattin bewachte, mußte sogar auf Staatskosten in Urlaub geschickt werden), insgesamt 28 Leichen exhumieren. Die Leichenteile, aber auch die Sargstücke sowie Erd- und Wasserproben aus den geöffneten Gräbern wurden auf mögliche Rückstände von Kaliumchlorid untersucht. In 17 Fällen schließlich glaubte Staatsanwalt Majorowsky der seit März 1986 in Untersuchungshaft einsitzenden Krankenschwester aufgrund „eindeutiger Untersuchungsergebnisse“ einen Mord nachweisen zu können.
Arbeitshetze und Streß
Während der bislang 28 Verhandlungstage hat sich die Angeklagte sehr umfangreich zu ihrer Person und der ihr zur Last gelegten Anklage eingelassen. In acht dieser Fälle hat sie zugegeben, bei den nach ihrer Ansicht dem Tode geweihten PatientInnen eigenmächtig das stark blutdrucksenkende clonidinhaltige Präparat Catapresan und das die Herztätigkeit lähmende Mittel Kaliumchlorid in dieser tödlichen Kombination gespritzt zu haben. Diese Mischung hat nach Auffassung der Sachverständigen schnell zu einem Herzstillstand geführt und ein akutes Herzversagen der in Wahrheit gezielt getöteten PatientInnen vorgetäuscht. „Wenn ich irgendjemandem sein Leiden verkürzen wollte, das Gefühl hatte, ich müßte ihm helfen, dann habe ich immer diese Mischung aufgezogen“, sagte die angeklagte Krankenschwester, als sie an einem der ersten Verhandlungstage den ersten Teil ihres langen Geständnisses ohne erkennbare Gefühlsregung in geschäftsmäßig nüchternem Buchhalterton vortrug.
Also doch eine „eiskalte Mörderin“, die da in Wuppertal auf der Anklagebank sitzt und es nach eigenem Bekunden sogar fertigbrachte, den Ärzten die falschen Ampullen mit den tödlichen Injektionen unterzuschieben? Eine entnervte Krankenschwester, die sich wie ihre drei Kolleginnen in dem Wiener Krankenhaus Lainz auf diesem Wege lästiger PatientInnen entledigen wollte? Die grüne Bundestagsabgeordnete Christa Nickels, selbst eine gelernte Krankenschwester, sieht nach den Vorgängen in Wuppertal und Wien bereits einen „Mörderbienen-Mythos“ in der öffentlichen Meinung heranreifen, „der auf derselben primitiven Stufe steht wie gewisse unsägliche 'Krankenschwesterreporte‘ der sechziger Jahre“. Mit „dem schweren und harten Berufsalltag“ des Krankenpflegepersonals, das gerade in diesen Tagen gegen die skandalösen Arbeitsbedingungen in diesem Metier protestiert, habe dies alles „nichts, aber auch gar nichts zu tun“, sagt Frau Nickels.
Eine Reihe von ZeugInnen in diesem Prozeß hat Auskunft gegeben über „Arbeitshetze, Streß und Überbelastung“ gerade auf Intensivstationen in bundesdeutschen Krankenhäusern. Im Wuppertaler St.-Petrus-Krankenhaus müssen die Verhältnisse besonders skandalös gewesen sein. Offenbar aus Gründen der Sparsamkeit hatte die Leitung dieses katholischen Hospitals monatelang unbedarfte Feuerwehrleute als Aushilfskräfte auf der Intensivstation eingesetzt; unter den Ärzten und Schwestern herrschte ein ständiges Kompetenzgerangel. Der Chefarzt der Allgemeinen Chirurgie, Christian Toader, soll über seine Kollegin auf der Intensivstation laut Zeugenaussagen geäußert haben: „Mit eurer Chefin kann man ja nicht reden, sie hat Methoden wie der Hitler.“ Toader bestreitet diese Aussage heute.
Die zwei Gesichter der Michaela Roeder
Die Gutachter Schorsch und Maisch haben überraschende Erkenntnisse über „die zwei Gesichter der Michaela Roeder“ ('Süddeutsche Zeitung‘) zu Tage gefördert. Mit ihrem „flapsig und burschikos“ wirkenden Auftreten versuche die Angeklagte ihre starken Ängste und Minderwertigkeitskomplexe zu überspielen. Nach nahezu acht Jahren ununterbrochenem Dienst auf der Intensivstation - die Höchstgrenze sollte normalerweise bei drei Jahren liegen - sei die damals erst 25jährige Krankenschwester als Schichtführerin und Vertreterin des Oberpflegers subjektiv überfordert gewesen. Sie habe schließlich den Bezug zur Realität verloren, urteilen die Gutachter in ihren vom Gericht unter Verschluß gehaltenen Vor-Gutachten, die der taz auszugsweise bekannt geworden sind.
Einen entscheidenden „Knackpunkt“ in der Biografie der Angeklagten sehen die Sachverständigen offensichtlich in der Entidealisierung ihrer Chefärztin, die zunächst das große Vorbild von Schwester Michaela gewesen sei. Dann machten jedoch eines Tages im Krankenhaus Gerüchte die Runde, die Chefärztin sei stark alkoholabhängig und tablettensüchtig. Michaela Roeder, die im Krankenhaus als „Chefins Liebling“ galt, sei daraufhin zunehmend depressiv geworden, habe unter Weinkrämpfen und Schlafstörungen gelitten, wie es in den vorläufigen Gutachten heißt. „Plötzlich habe ich gesehen, die Chefin ist ja auch bloß ein Mensch“, schildert die Angeklagte diese biographische Bruchstelle vor Gericht.
Die Sachverständigen Schorsch und Maisch schließen nicht aus, daß die zunehmend überforderte Krankenschwester schließlich derart in eine Streßsituation verstrickt gewesen sein könnte, daß sie zwischen ihrem eigenen und dem Leid der PatientInnen nicht mehr habe unterscheiden können; sie habe es offensichtlich nicht mehr geschafft, sich zu distanzieren und abzugrenzen. Als „psychischer Entlastungsmechanismus“, so sagen die Sachverständigen, sei das eigene Leiden auf das Leiden der PatientInnen projeziert worden. Damit kämen die angeklagten Tötungen „in die Nähe des erweiterten Suizids“. Mit einer in der Öffentlichkeit festgefügten Vorstellung von Sterbehilfe, mit der die Angeklagte selbst ihre Taten verteidigt, hätten diese Handlungen hingegen nichts zu tun.
Zynismus oder Notsignal?
Staatsanwalt Majorowsky mag sich mit diesen Erkenntnissen der Gutachter keineswegs abfinden und hält entschlossen an seiner Mordanklage fest. Als Beleg dienen ihm verschiedene Äußerungen der Angeklagten im Kreise von StationsmitarbeiterInnen, mit denen sie den Tod bestimmter PatientInnen regelrecht vorausgesagt haben soll: „Bis zum Fußballspiel hat sie's eh geschafft“, soll Schwester Michaela angesichts einer bevorstehenden Länderspielübertragung im Fernsehen über eine 77jährige Patientin geunkt haben, die wenige Stunden später tatsächlich verstarb. Und in einem anderen Fall notierte sie ins Stations-Wachbuch: „Patient auf eigenen Wunsch ins LH (Leichenhaus) verlegt. Schönes Wochenende, wenig Maloche.“ Während die Ankläger darin den „nicht mehr zu überbietenden Zynismus“ einer völlig abgestumpften Mörderin sehen, die sich mit den tödlichen Injektionen lästige Patienten vom Halse schaffen wollte, haben die Gutachter auch hierfür eine gänzlich andere Erklärung: Diese flapsigen Sprüche seien nichts anderes als „Notsignale“ gewesen, mit denen die Angeklagte andere ansprechen wollte, „damit man ihr hilft“. Noch heute fühlt sich die Angeklagte von ihren KollegInnen unverstanden, wie sie nach deren Zeugenaussagen vor Gericht erklärte: „Mich selbst kennen sie überhaupt nicht...“
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