: Vereint im großen Haß auf Li Peng
Das Volk würde Armee nicht durchlassen / Offiziere: „Geschossen wird nicht“ / Breite Front von Studenten und Arbeitern gegen Regierung / Hilfe aus allen Bevölkerungsschichten für die Demonstranten / Regierung versucht es mit Besänftigung ■ Aus Peking Reinhold Wandel
Der versuchte Einsatz des Militärs hat die Bevölkerung völlig gegen die Regierung aufgebracht. Es sind schon längst nicht mehr die Studenten allein, die sich zur Wehr setzen. Wenn abends die Barrikaden aufgebaut werden, sind alle dabei. Arbeiter, Großmütter mit gebundenen Füßen, kleine Kinder, ganze Familien harren bis zwei Uhr nachts auf der Straße. Abends bei Einbruch der Dunkelheit werden an wichtigen Straßenkreuzungen Telegraphenmäste quergelegt, die Straßen werden mit Bussen, Traktoren, Lkws blockiert. Tagsüber fürchtet man kein Eindringen des Militärs. Die Militärfahrzeuge würden sofort von Tausenden umringt.
An der Eisenbahnstrecke Richtung Nordbahnhof versammeln sich Nacht für Nacht Hunderte von Menschen. Sie stehen auf den Gleisen, stoppen und durchsuchen die Züge, um zu verhindern, daß auf diese Weise Soldaten in die Innenstadt gelangen. Bei Personenzügen dauert die Kontrolle nur ein paar Minuten, bei langen Güterzügen fast eine Stunde.
Fast unerträglich wurde hier die Spannung, als die Nachricht von Li Pengs Ultimatum eintraf: Bis fünf Uhr morgens müsse der Platz geräumt sein, sonst werde das Militär eingreifen, hatte der Premier gedroht. Die Stimmung veränderte sich daraufhin schlagartig. Das Fest des Volkes, wie man die ganze Aktion hätte nennen können, war vorüber. Kaum jemand lächelte noch, die meisten waren unruhig und gereizt. Am Bahnübergang wurde diskutiert, ob man sich notfalls vor den Zug legen solle. Heute zogen Gruppen von Menschen mit grimmig entschlossenen Gesichtern in Richtung Innenstadt. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens selbst herrschte eine fast pathetisch verzweifelte Stimmung.
Die Menschen bildeten Ketten, viele weinten, einige behaupteten, sie seien bereit, ihr Leben für diesen Kampf zu opfern.
Am nächsten Morgen machte sich wieder Erleichterung breit. Inzwischen sollen auch Offiziere versichert haben, die Armee würde nicht gegen das Volk vorgehen. Klar schien auch: Die Armee kann nicht in die Stadt eindringen, es sei denn, sie richtet ein ungeheures Blutbad unter den Hunderttausenden auf dem Tiananmen-Platz an. Am Montag wurde die Stimmung wieder gelöster, zuweilen gar euphorisch. Zwei große Einzeldemonstrationen fielen am Tiananmen-Platz auf: Die Mitarbeiter der 'Volkszeitung‘ protestierten gegen die Zensur, die ihnen verbietet, zu berichten. Und die Studenten der Parteihochschule forderten die Rücknahme des Kriegsrechts. Das Kriegsrecht ist zwar augenblicklich eine Farce, da es nicht durchgesetzt werden kann.
Hunderttausende demonstrieren, Hunderttausende arbeiten nicht, Ausländer bewegen sich nach wie vor frei auf dem Platz des Himmlischen Friedens, obwohl sie dies eigentlich nicht dürfen. Eine bedeutsame Auswirkung hat das Kriegsrecht aber dennoch: Seit es verhängt wurde, hat auch das Gros der einfachen Parteimitglieder Li Peng und seinen Maßnahmen jede Unterstützung entzogen.
Das Volk ist sich einig. Die Leute sprechen in der Wir-Form und sprechen von „denen“ und meinen die Regierung auf der anderen Seite. In einer Reihe von Fabriken erscheinen die Arbeiter zwar morgens im Betrieb, arbeiten aber nicht, sondern stehen rum, diskutieren, warten darauf, daß etwas passiert. Eine metallverarbeitende Fabrik hält eine ständige Kontrollgruppe auf dem Tiananmen-Platz. Sobald etwas Wichtiges passiert, radelt einer los zur Fabrik, um Bericht zu erstatten. Einer anderen „Einheit“ („Einheit“ ist das chinesische Wort für Fabrik) wurde gestern spät abends mitgeteilt, auf dem Tiananmen mangle es an abgekochtem Trinkwasser.
Die Demonstranten hätten bereits aus der Wasserleitung getrunken, und man befürchtete, daß sie an Durchfall erkranken würden. Umgehend begannen etwa hundert Leute große Mengen Wasser abzukochen, andere besorgten benutzte Plastikflaschen mit Schraubverschluß, organisierten ein Auto von einem wohlbetuchten Einzelhändler und brachten den Wassertransport auf den Weg. Andere stifteten salzig eingelegtes Gemüse, weil die Studenten in der letzten Woche fast nur Brot gegessen haben und es ihnen an Salz mangelt.
Ein Vorrücken des Militärs würde vermutlich sofort dazu führen, daß sämtliche Arbeiter auf die Straße strömen. So war es zum Beispiel in der Nacht von Samstag auf Sonntag in Shijing Shan, im Westen von Peking: Das Militär wurde blockiert von den Arbeitern des Pekinger Stahlkombinats, einem der Musterbetriebe Chinas. Chinesischen Bekannten, die mit Soldaten gesprochen haben, erzählten mir, die Soldaten kämen aus Sichuan, der Heimat von Deng Siao Ping, und aus Liaoning. Es ist bekannt, daß sich im Süden der Stadt Truppen aus Baoding in der Provinz Hebei befinden. Manche meiner Studenten haben die Angst geäußert, wenn die Soldaten wirklich mit Gewalt gegen das Volk vorgehen würden, könnte es sein, daß sich andere, also Pekinger Militäreinheiten dagegenstellen würden - dies würde Bürgerkrieg bedeuten.
Gerüchte statt Nachrichten
Ständig schwirren Gerüchte durch die Luft: Hungerstreikende seien gestorben, Panzer würden am Sommerpalast stehen, alles bleibt unbestätigt. Laut Kriegsrecht ist das Verbreiten von Gerüchten verboten. Da die Nachrichten nur spärlich oder gar nicht fließen, muß man jedoch mit diesen verbotenen Gerüchten vorliebnehmen. Am Montag nachmittag haben Hubschrauber Flugblätter über dem Tiananmen abgeworfen. Sie enthielten die Aufforderung, die Leute sollten nach Hause gehen. Übers Radio wurden die auswärtigen Studenten aufgefordert, die Hauptstadt zu verlassen. Das Gegenteil geschah: Es kamen immer mehr Studenten von auswärts in die Stadt, zum Teil wurden sie vom Bahnpersonal umsonst mitgenommen.
Eine Bekannte, die gerade von einer Reise zum Taishan, einem der heiligen Berge Chinas in der Provinz Shandong, zurückkehrte, erzählte, auch in der dortigen Kreisstadt Taian gebe es große Demonstrationen - und dort gibt es gar keine Studenten. In Wuhan ist gestern erneut die große Jantse-Brücke von Studenten blockiert worden. In Kanton sollen Hunderttausende auf den Straßen sein. Und doch wirkt das Leben fast normal hier. Die Züge verkehren, der Flughafen ist offen, tagsüber besteht überhaupt kein Problem, in der Stadt zu fahren: Die Barrikaden sind weggeräumt, zumindest wird eine Fahrbahn freigelassen. Wir bringen unsere Tochter nach wie vor in den deutschen Kindergarten, der eine halbe Stunde Fahrt entfernt im Osten der Stadt liegt. Die Verkehrsdichte beträgt etwa 20 bis 30 Prozent des sonst üblichen Verkehrs. In den großen Touristenhotels wird ganz normal gearbeitet, nur die Gesichter des Personals sind angespannt. Es ist noch nichts zu bemerken von der vom Pekinger Bürgermeister angekündigten drohenden Lebensmittelknappheit. Hier im Nordwesten finden sich nach wie vor viele Bauern ein, um Obst und Gemüse zu verkaufen. Die Preise sind bislang nicht gestiegen. Auch im Freundschaftsladen für Ausländer mangelt es keinesfalls an Waren. Der Nachschub scheint zu funktionieren.
Der Bürgermeister von Peking hat gesagt, wenn es so weiterginge, gebe es bald kein Wasser und keinen Strom mehr. Das mag vielleicht eine Erpressung sein oder eine Begründung dafür, daß man eben Militär brauche, um in die Stadt Ordnung zu bringen.
Gestern abend änderte sich der Charakter der Fernsehnachrichten. Statt der grimmigen Miene von Li Peng sah man eine freundliche Nachrichtensprecherin, die einen überaus höflichen Brief von der Witwe Zhou Enlais, der von den Studenten verehrten Deng Yingchao, vorlas. „Geliebte Studenten, geliebte Mitbürger, bitte geht zurück an die Arbeit, laßt die Armee gewähren.“ Und dann wurden zum ersten Mal Bilder von Militärkonvois gezeigt, die von Tausenden umgeben waren. Es gab ein ausführliches Interview mit einem Offizier: „Wir unterstützen die Forderungen der Studenten, wir wollen nur die Ruhe in der Stadt wiederherstellen!“ Es wurde deutlich, daß die Soldaten auf den gewaltfreien Widerstand völlig unvorbereitet waren. Sie hatten nicht einmal Essen dabei. Und so sah man in ganz China Bilder, wie Studenten und Kinder den Soldaten Essen anboten. Angeblich sollen sich Bauern und Händler weigern, den Soldaten Nahrung zu verkaufen. So muß das Volk also helfen, um den Soldaten Essen zu geben. Es wird berichtet, daß bei diesen Situationen einige Soldaten weinen.
Der gewaltfreie Widerstand ist bislang grandios geglückt. Von Voice of America und vom BBC nur weiß ich von Zwischenfällen und Verletzten. Die Ausländer halten sich mit Hilfe ihrer Kurzwellenempfänger auf dem Stand der Dinge, die chinesischen Nachrichten enthalten fast nur wiederholte Aufforderungen, die Unruhen zu beenden. Wobei zu fragen bleibt, wo denn eigentlich die Unruhe ist.
Die Stimmung unter den Studenten und unter den Hochschulangestellten ist unvorstellbar frei. Vor vier, fünf Wochen hätte man mit bestem Willen so was nicht für möglich halten können. Man ist vereint im großen Haß auf Li Peng. Die Person Dengs, dessen Rücktritt man vor ein paar Tagen noch stark forderte, ist sehr stark in den Hintergrund getreten. Zhao Ziyang, über dessen Verbleib nach wie vor nichts bekannt ist, ist inzwischen sehr populär geworden. Man geht davon aus, daß er den Militäreinsatz nicht befürwortete und in der Abstimmung im Führungsausschuß des Politbüros mit eins zu vier Stimmen unterlegen sei. Jedenfalls ist er dadurch für die Leute glaubwürdig geworden, eine Rückkehr Zhaos zu seiner Position beim gleichzeitigen Rücktritt von Li Peng würde vermutlich nach ein, zwei Tagen wieder Ruhe in Peking einkehren lassen. Die Lösung wäre ziemlich einfach, und es erstaunt den europäischen Beobachter, daß hier nur wenige von einem freiwilligen Rücktritt Li Pengs ausgehen. Li Pengs Politik, der Versuch, die Krise zu meistern, ist völlig gescheitert. Im Gegenteil, die Situation hat dadurch unglaublich eskaliert. Nach westlichem Verständnis müßte er zurücktreten, aber in China, in der chinesischen Geschichte gibt es nicht die Tradition, daß man selbst zurücktritt. Man stirbt oder wird zurückgetreten. Heute, Dienstag, haben die Studenten auf dem Tiananmen wieder zu einer großen Demonstration mobilisiert, ganz Peking soll in die Innenstadt kommen. Die meisten Studenten sind vor einer guten Stunde losgezogen, inzwischen ist ein starker Gewittersturm aufgekommen. Auch der Himmel weint.
Reinhold Wandel ist Berliner Lehrer und arbeitet zur Zeit an einer Pekinger Hochschule.
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