piwik no script img

„Kompensation von Niederlagen“

Helmut Holzapfel, Verkehrswissenschaftler in Dortmund  ■ I N T E R V I E W

taz: In Berlin herrscht großer Widerstand gegen das Tempolimit auf der Avus. Hat sich an dieser Gesinnung „freie Bürger freie Fahrt“ in den vergangenen Jahren denn überhaupt nichts geändert?

Helmut Holzapfel: Ich denke, daß Berlin ein gewisser Sonderfall ist. In Westdeutschland ist es so, daß zunehmend von den Landesregierungen Tempolimits verhängt werden. Es gibt gerade jüngst in Baden-Württemberg, also einem Bundesland, wo die Automobilindustrie bekanntlich konzentriert ist, ein Gutachten, das deutlich nachweist, daß dies positive Effekte auf die Unfallbilanz und auf die Umwelt hätte, und das führt dazu, daß auch dort Tempolimits zunehmend eingerichtet werden. Diese Beschränkungen werden eigentlich mit einem breiten Konsens getragen.

Dann ist Berlin also eine Ausnahme?

Richtig, das ist eher ein Symbolgehalt in der Stadt. Ich verbinde damit auch Berliner Provinzialität.

Dies ist ja schon fast eine psychologische Antwort. Warum sind gerade die Deutschen und speziell die Berliner so tempowütig und andere Nationen da eher gelassen?

So tempowütig sind viele Deutsche gar nicht. Es ist immer noch so, daß sich bei allen Umfragen ergibt, daß die Mehrheit der Bevölkerung eigentlich für ein Tempolimit auf Autobahnen ist. Nur, wir haben zum einen eine starke Automobilindustrie und dann eine Propaganda in Annoncen, die in unserem Land besondere Wirkung gezeigt hat. Das liegt auch in einer historischen Tradition von Kompensation von Niederlagen begründet, die man auf der Arbeit und woanders bekommt, im Straßenverkehr. Wenn man zum Beispiel sieht, daß nach dem Krieg der Wiedereinsatz der „Silberpfeile“ auf den Rennstrecken und die entsprechenden Siege praktisch auch den Wiederaufstieg der Bundesrepublik begleiteten, da sieht man so eine zentrale Parallelität im Bewußtsein vieler Menschen. Wir haben mittlerweile eine völlig sinnlose Aufrüstung der Automotoren, die auch ökologisch eine Katastrophe darstellt. Eigentlich sind die Verkehrsbedingungen noch gold in Berlin, und die drei Minuten, die man auf der Avus dadurch verliert, daß man nicht 200, sondern 100 fährt, das ist wirklich merkwürdig. Die eingeweihte Fachwelt weiß, daß ein Tempolimit auf mittlere Sicht auch generell in der Bundesrepublik nicht vermeidbar sein wird.

Interview: Mathias Bröckers

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen