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Eltern ließen ihr Kind verhungern

■ Sieben Monate altes Mädchen starb an „hochgradiger Auszehrung“ / Staatsanwalt klagt Mutter wegen Totschlags an / Verfahren gegen Ehemann war bereits eingestellt: Väter für Kinderversorgung „nicht zuständig“

„Rabenmutter ließ Baby verhungern“. So könnten die Schlagzeilen lauten für einen Fall, um dessen Aufklärung sich seit gestern drei Berufsrichter, zwei Laienrichter und fünf Sachverständige bemühen: Am 5. Oktober 86 fand der damals sieben Jahre alte Oliver W. sein Schwesterchen morgens tot in seinem Bettchen. „Mama, Mama, Katja bewegt sich nicht mehr.„- „Katja hatte schon einen ganz starren Blick“,

sagte ihre Mutter, die inzwischen 28jährige Peggi W., gestern. Drei Tage betrat sie das Kinderzimmer, das zum Sterbezimmer geworden war, nicht mehr. Dann vertraute sie sich einer Nachbarin an. Von ihr erfuhr Katjas Vater am Nachmittag was passiert war. Als er in die Wohnung kam, waren seine Frau und die drei Kinder weg. Peggi W. hatte es nicht mehr ausgehalten, war zu ihren Eltern gezogen.

Seit gestern müssen sich Katjas Eltern vor dem Schwurgericht verantworten. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ihres toten Kindes ergab: Katja starb nach nur sieben Monaten Leben an „hochgradiger Auszehrung“. Während die Staatsanwaltschaft der Mutter „Totschlag“ ihres eigenen Kindes vorwirft, ein vorsätzliches Verbrechen, muß Katjas Vater sich lediglich wegen fahrlässiger Tötung verantworten

-ein Vergehen. Ursprünglich hatte die Staatsanwaltschaft überhaupt keinen Grund gesehen, auch Rainer W. zur Rechenschaft zu ziehen, das Verfahren gegen ihn war bereits eingestellt. Inzwischen ist Staatsanwalt Repmann zu der Erkenntnis gekommen: Auch ein Vater muß erkennen, wenn seine Tochter bis zum Skelett abgemagert ist.

Was auf in den Zuschauerrängen gestern vor Beginn der Verhandlung noch als Ergebnis der Kaltschnäuzigkeit rücksichtsloser Rabeneltern erschien, verdichtete sich nach siebenstündiger Beweisaufnahme allerdings zu einer Tragödie von geradezu bedrückender Zwangsläufigkeit. Was 1986 mit dem Tod der kleinen Katja endete, begann im Mai 1976 mit einer Muß-Ehe. Das erste Kind, Oliver war unterwegs. Rainers und Peggis Eltern beschlossen: „Jetzt wird geheiratet.“ Noch am Hochzeitsmorgen wollte das junge Paar - sie 18, er vier Jahre älter - einen Rückzieher machen. Vergebens. Nach der Hochzeit verschwand Rainer W. klammheimlich in einer Disko und betrank sich. Auch in der Ehe war W. selten zu Hause, arbeitete tagsüber als Fernfahrer, seine Freizeit gehörte Freunden und Schäferhunden. „Für mich war immer selbstverständlich, daß die Kinder bei meiner Frau gut versorgt sind. Ich kann mit kleinen Kindern sowieso nichts anfangen. Kindergebrüll macht mich nervös“, erklärt W. dem Gericht sein Verständnis von Arbeitsteilung in der Ehe.

Daran änderte sich auch nichts, als nach Sohn Oliver vier weitere Kinder geboren werden. Insgesamt 10 mal war Peggi W. innerhalb von sieben Jahren schwanger, erlitt drei Fehlgeburten, ließ zwei Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Über Verhütung wurde bei W.s nicht geredet: „Wir konnten sowieseo nie über irgendetwas reden Es gab immer gleich Streit.“ Selbst von den Schwangerschaften will W. immer erst erfahren haben, wenn „man was sah“. Mit „Angst vor Schlägen“ erklärt W. sich selbst die Verschweignheit seiner Frau, um sofort anzufügen: „Wegen einer Schwangerschaft hätte ich sie aber nicht geschlagen.“

Er selbst benutzte gelegentlich Kondome, aber nur „wenn ich nicht zu betrunken war“. Seine Mutter riet ihm zu einer Sterilisation. W. befüchtete „dann kein richtiger Mann mehr zu sein“. Nach siebenjähriger Ehe wohnten zwei Erwachsene, vier Kinder und zwei Schäferhunde in der 43-Quadratmeter -Wohnung der W.s. Als Katja kam, versorgte ihre Mutter sie zunächst wie alle anderen Kinder. Erst sechsmal täglich mit dem Fläschen, später mit Schmelzflocken. Warum sie starb, kann sich Peggi W. heute selbst nicht mehr erklären. „Irgendwann muß ich geblockt haben. Ich muß mich völlig überfordert gefühlt haben.“

An zwei weiteren Verhandlungstagen will das Gericht aufklären, was Peggi W. inzwischen verdrängt und ihr Mann gar nicht erst bemerkt hat.

K.S.

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