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Budapest: Kampf zwischen Regierung und Partei

Niedergang der ungarischen Wirtschaft hält an / Reformen haben den Kern der sozialistischen Ökonomie nicht berührt / Überlebenskampf auch für Mittelschicht  ■  Von Farkas Piroschka

1989 hat für den Alltag der Ungarn bisher nichts Gutes gebracht. Die schillernden politischen Reformen - vielleicht mit Ausnahme der unlängst verkündeten Einstellung der Bauarbeiten am Donaukraftwerk Bös-Nagymaros - verfolgen die meisten mit Skepsis und wenig Begeisterung. Die Hauptaufmerksamkeit der großen Mehrheit gilt seit geraumer Zeit dem täglichen Überleben.

Die Zahl derjenigen, die jeden Monat die bange Frage stellen müssen, ob bis zum nächsten Zahltag noch genug Geld da sein wird, steigt von Woche zu Woche, von Preiserhöhung zu Preiserhöhung. Betroffen sind nicht mehr die ohnehin recht ausgedehnten Randgruppen allein. Die rapide Verarmung hat bereits die Mittelschichten erreicht: Facharbeiter, Buchhalter und Lehrer sind immer häufiger anzutreffen unter den vielen Tausenden, die ihre monatliche Strom- und Gasrechnung nicht mehr bezahlen können.

Die ungarische Währung, der Forint, wurde in diesem Jahr bereits zweimal abgewertet, eine Maßnahme, die laut Regierungserklärung berufen war, die ungarischen Exportchancen zu verbessern. Sie hat statt dessen vor allem die bei etwa 20 Prozent liegende Inflation angeheizt. Die an und für sich schon verheerende Wirkung des 1987 eingeführten Steuersystems ist durch die beschleunigte Geldentwertung zusätzlich verstärkt worden.

Die Gier des Staates nach Steuern und Einnahmen jeder Art nimmt allmählich groteske Züge an, die an die Praktiken von frühen Feudalherren erinnern. Als am 1.April dieses Jahres ohne Diskussion und Vorwarnung eine neue, für ungarische Verhältnisse schockierend hohe Autobahngebühr erhoben werden sollte, kam es fast zum offenen Aufstand. Die Notwendigkeit dieser nahezu räuberischen Maßnahme wurde mit dem in der Tat katastrophalen Zustand des ungarischen Straßennetzes begründet. Die Regierung mußte jedoch alsbald schamhaft zugeben, daß sie keinerlei Garantien dafür geben könne, daß diese Steuer nicht ebenso wie die Benzinsteuer im bodenlosen Faß des Staatshaushalts verschwinden werde, aus dem - um nur einige Beispiele zu nennen - weiterhin marode Staatsbetriebe, zwielichtige bewaffnete Organisationen und die diversen unbekannten Ausgaben der immer noch herrschenden Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) finanziert werden.

Die Autobahngebühr wurde zu Fall gebracht, die Regierung aber muß über neue Einnahmequellen nachsinnen. Das Defizit des Staatshaushalts hat 1989 bereits im ersten Quartal die Größenordnung erreicht, die für das ganze Jahr vorgesehen war. Die Verschuldung dem Westen gegenüber ist pro Kopf gesehen die höchste in Osteuropa, und der Verschuldungsprozeß konnte trotz aller verbrauchssenkenden Maßnahmen nur etwas gemildert, aber nicht gestoppt werden. Die Devisenreserven der ungarischen Nationalbank haben Ende April einen gefährlichen Tiefstand erreicht, und einige Experten sind der Ansicht, daß inzwischen das kleinste unerwartete Ereignis zur Zahlungsunfähigkeit des Landes führen kann.

Die gegenwärtig auf etwa 18 Milliarden Dollar geschätzten Schulden Ungarns sind die schwere Last der Kadarschen Epoche. Von den westlichen Krediten, die ab Anfang der sechziger Jahre aufgenommen wurden, finanzierte die Kadar -Führung den ungarischen Kompromiß, der darin bestand, aus Furcht vor einem neuen 1956 ein bißchen mehr Fleisch und Freiheit gegen die Tolerierung des Systems durch die Bevölkerung zu tauschen. Die geborgten Gelder wurden jedoch nicht für die Modernisierung der extrem zentralisierten, schwerindustrielastigen Wirtschaft, sondern in erster Linie für den Ausgleich der von ihr erzeugten Defizite, für irrsinnige Großprojekte (die zum größten Teil in der Sowjetunion angesiedelt waren, wie zum Beispiel die gegenwärtig immer noch fortgesetzte ungarische Beteiligung an der Gasleitung von Jamburg) und zu einem erheblich geringeren Teil für den Import von höherwertigen Konsumgütern aus dem Westen ausgegeben. Erst als offenkundig wurde, daß die Partei ihren Teil des Kompromisses nicht mehr einhalten kann, fing man nach dem ersten gescheiterten Versuch von 1968 wieder an, von der Notwendigkeit von Reformen zu sprechen.

Die großen politischen Reformen der letzten Monate waren in gewisser Weise der Preis, den die Partei und ihre Klientel bereit waren zu zahlen, damit sich in der Wirtschaft nichts oder nichts Wesentliches ändere. Die Bewegungslosigkeit wurde zugleich blendend kaschiert. Von den Reformvorschlägen der alternativen Organisationen hat man selektiv diejenigen übernommen, die geeignet waren, die Einnahmen des Fiskus zu erhöhen. Als erstes wurde eine Steuerreform eingeführt, die Lohn- und Preisrefom stehen bis heute aus. Ausgerechnet der soziale Bereich, das klassische Betätigungsfeld des auf Ausgleich bedachten Staates, wurde den regulierenden Kräften des Marktes überlassen, während in der Produktion, wo tatsächlich der Markt hätte gestärkt werden müssen, weiterhin die staatliche Reglementierung überwiegt.

Das gesamte Wirtschaftssystem leidet unter der rigorosen Sparpolitik, die zwar die Verschwendung auf der Produktionsseite keineswegs gestoppt hat, aber alles absahnt, was von der Bevölkerung und den Betrieben zu holen ist. Auch wenn es keine Planvorgaben in der klassischen Form mehr gibt, ist die Selbständigkeit der Betriebe kaum gewachsen. Ihr Bewegungsspielraum ist durch die hohen Abgaben stark eingeschränkt, und mittels der - unter diesen Umständen für fast jeden Betrieb überlebensnotwendig gewordenen - Zuschüsse können die Ministerien immer noch weitestgehend nach Belieben schalten und walten.

Die meisten Betriebe kämpfen mit einem drückenden Kapitalmangel und nun gehen ihnen, mangels zahlungsfähiger Nachfrage in der Bevölkerung, selbst die inneren Märkte verloren. In dieser Situation hat sich der gegenwärtig noch tonangebende Teil der Parteiführung für eine Taktik entschieden, die schon in Polen versagt hatte: Sie versuchte die Wirtschaftsmisere ihrer eigenen Regierung anzulasten, wahrscheinlich, um sie dann dem Volkszorn zu opfern. Dieses Regierungsopfer hätte dann die gleiche Funktion wie die politischen Reformen: von der Notwendigkeit einer grundsätzlichen Reform des Staatseigentums abzulenken.

Doch die Regierung Nemeth scheint den Kampf gegen die eigene Parteiführung aufgenommen zu haben. Nemeth entließ vier Minister der alten Riege, darunter den Finanz- und den Industrieminister sowie den Chef des staatlichen Planungsamtes. Die frei gewordenen Posten besetzte er mit ihm ergebenen Fachkräften, die alle den Ruf genießen, dem Kreis der Reformer anzugehören. Als nächstes kündigte er den vorläufigen Baustopp des Donaukraftwerkes an und versprach nun, noch Ende Mai ein vorläufiges Programm zur Rettung der Wirtschaft vorzulegen.

Von dem bisher öffentlich nicht bekanntgewordenen Programm hieß es in einer Pressekonferenz, daß es trotz der weiteren Verschlechterung der Zahlungsbilanz der Bevölkerung keine neuen Lasten mehr aufbürden wolle. Statt dessen sollen Staatsausgaben, zum Beispiel die Verteidigungsausgaben, gekürzt werden. Vorgesehen sein sollen - in schroffem Gegensatz zur bisherigen Politik - Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft, vor allem zur Förderung kleinerer und mittlerer Betriebe, sowie auch die Reprivatisierung gewisser Bereiche. Zunächst jedoch kam die Regierung nicht darum herum, erneute Preiserhöhungen von durchschnittlich 20 Prozent zu verordnen. Sie betreffen Treibstoff, Energieträger und Fernheizungsgebühren.

Scheinbar setzt sie damit die Politik ihrer Vorgänger fort (dafür spricht die überfallartige Ankündigung). Eine -wesentliche- Änderung gibt es indes doch. Die Mehreinnahmen, die durch die Benzinpreiserhöhung entstehen, fließen nicht mehr in das unkontrollierbare Budget, sondern in einen gesonderten Straßenfonds, für den der Verkehrsminister persönlich zur Rechenschaft verpflichtet wurde.

Ein langfristiges Wirtschaftsprogramm versprach Nemeth für den Frühherbst. Soll es sich dabei um ein ernstgemeintes Programm handeln, das mit der bisherigen Unantastbarkeit der Wirtschaft bricht, wird es Vorschläge zur Eigentumsreform und zur radikalen Verkleinerung der staatlichen Umverteilung enthalten müssen.

Wie diese Reform im einzelnen auszusehen hätte, weiß allerdings keiner. Eine Technik, mit der die Reprivatisierung durchgeführt werden könnte, kann man sich kaum vorstellen. Auch wäre dieser Schritt nicht ungefährlich, denn er wäre nicht der erste, der die Klientel der Partei tatsächlich ernsthaft träfe - nicht nur die korrupten Bürokraten der Ministerien und Betriebe, sondern auch die Arbeiter und Angestellten, die sich in den vergangenen 45 Jahren längst daran gewöhnt haben, Teil dieses Systems zu sein, das heißt, weder für sich, noch für andere Verantwortung zu übernehmen.

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