: Vom Sozialstaat zur „Vollkaskogesellschaft“
■ Die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes in Auszügen
IM
Heute vor 40 Jahren trat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Nach schwerer Vergangenheit hatten Deutsche wieder einen eigenen Staat. Er umfaßte nur einen Teil Deutschlands. Er war nicht souverän. Es herrschte große Not. Aber in dieser Stunde kehrten Deutsche in den Kreis der Völker zurück, die Verantwortung für sich selbst tragen. Sie taten diesen Schritt als freie Menschen.
Kaum je ist ein Staat so zur Welt gekommen. Im Zeichen der Spannung zwischen Ost und West war die Initiative von den Besatzungsmächten ausgegangen, vor allem von Amerika. Ein alliierter Auftrag zur Staatsgründung erreichte die Ministerpräsidenten der Länder, und diese zögerten. Sie waren Patrioten und wollten die Teilung Deutschlands nicht verfestigen. (...) Sie knüpften an deutsche Verfassungen an. Sie selbst zogen Lehren aus verhängnisvollen Schwächen der ersten deutschen Republik. Sie handelten im eigenen tiefen Bewußtsein der Notwendigkeit, umzukehren nach dem namenlosen Leid und Unrecht der zurückliegenden Jahre. Unsere Verfassung ist kein Werk der Siegermächte, sondern deutsch. (...)
Im Innern regte sich überall der Wille zum politischen Gelingen. Die grausamen Lehren der Vergangenheit erzeugten ein klares Bewußtsein von der Notwendigkeit, zusammenzuarbeiten. (...) Fast alle mußten unten beginnen. Der Sozialstaatsgedanke als neues, rechtlich verbindliches Staatsziel verlangte, daß alte gesellschaftliche Gräben zugeschüttet werden und keine Gruppe oder Minderheit ausgegrenzt wird. Man war dem demokratischen Ziel größerer Angleichung von Chancen näher als je zuvor.
Extreme Kräfte bekamen in der Gesellschaft sowenig Chancen wie im Staat und in den Parteien. Man suchte den Konsens und entwickelte die Kraft zum Kompromiß. Man hatte Sinn für Maß und Mitte. Die Verpflichtung, für menschlich nicht wiedergutzumachendes Unrecht, vor allem gegenüber Juden, wenigstens materiellen Ausgleich zu leisten, wurde aufgenommen. Gegenseitige solidarische Hilfe, Sozialpartnerschaft in der Arbeitswelt, ökumenische Öffnung in den Gemeinden wuchsen heran. (...) Wir haben gewiß keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Auch unter dem Grundgesetz sind wir keine Engel geworden. Wir verrichten nur Menschenwerk, und das bleibt immer unvollkommen. Deshalb haben wir aber auch keinen Grund, uns selbst zu verleugnen. Wir dürfen uns so annehmen, wie wir sind, und gemeinsame Leistungen getrost anerkennen. (...)
Wir sind zuverlässig eingebunden, nicht nur in die Verfassungsprinzipien der westlichen Demokratien, sondern unwiderruflich auch in ihre Zivilisation. Sie ist Teil unseres Wesens geworden, und sie beschert uns gemeinsame Herausforderungen. Dazu zählt die Jugendrevolte in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Aktive Teile einer neuen Generation sahen keinen Grund, in kritikloser Dankbarkeit hinzunehmen, daß sie nun über weit mehr Freiheit und Wohlstand verfügten als ihre Vorfahren. Nach ihrem Empfinden hatte sich der Wiederaufbau in eine allzu einseitige, materiell orientierte, selbstsüchtige Leistungsgesellschaft hineinentwickelt. Scharfe Fragen gab es zur Vergangenheit, zur Offenheit des Bildungssystems, zur Demokratie als Lebensform. Jede Autorität geriet unter Verdacht. Überlieferte Bindungen wurden angefochten, eine neue Emanzipation ausgerufen.
Die Verständigung unter den Generationen war, wie so oft, schwierig. Fehler wurden allseits begangen. Ältere fühlten sich mit ihren Aufbauleistungen verkannt. Jüngere verlegten sich mit moralischen, radikaldemokratischen und kulturrevolutionären Motiven aufs Provozieren, auf Abbruch und rücksichtslosen neuen Anfang. Es gab fundamentalen Widerspruch, strikte Verweigerung, massive Konfrontation. Zum Teil kam es zu offener Gewalt, später in einzelnen Fällen zu Terror und schweren Verbrechen. Der demokratische Rechtsstaat bestand seine härteste Probe. In dieser Zeit schärfte sich unser Bewußtsein dafür, daß Recht Recht bleiben muß, daß Verbrechen Strafe fordert, daß aber auch Recht menschliches Recht ist und menschlich angewandt werden muß. (...) Bald nach dem Krieg wurden die Arbeiten und Verantwortungen, die die Frauen während des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft der Männer hatten übernehmen müssen, wieder von den heimkehrenden Männern beansprucht. Dennoch gab es keine Umkehr mehr. Der Wunsch nach einem eigenen Beruf wurde für viele Frauen zur Notwendigkeit, für die meisten zur Selbstverständlichkeit.
Frauen sind aber nach wie vor zu oft benachteiligt. Sie bekommen es beim Einstieg, beim Aufstieg und beim Wiedereinstieg zu spüren. Dahinter steht die Spannung zwischen Familie und Beruf. Noch immer müssen sich Familien dem Arbeitsmarkt anpassen, statt umgekehrt. Darunter leiden alle. Die Frauen tragen den Löwenanteil der Lasten, die sich daraus ergeben. (...)
Die Stellung, die die Frau in der Vergangenheit innehatte, sollte niemand entwerten, so belastet sie auch war. Eines aber ist heute unumstößlich: die Frauen sind freier geworden. Das ist ein Gewinn für sie. Männer sollten aufhören, unwiederbringlichen Privilegien nachzutrauern. Dann sind sie auch besser in der Lage, den Familien nicht nur materiell aufzuhelfen, sondern auch beim Denken und Fühlen im Ganzen. (...)
Wir können für unsere Einsichten eintreten und unsere Interessen wahrnehmen. Wir können Solidarität erwarten, wenn wir sie selber üben. Das Grundgesetz gewährt Schutz und bietet Chancen, aber nicht ohne unser Zutun. Wenn Ausländer unter diesem Schutz stehen, dann sollten auch wir Deutschen uns ihnen gegenüber wirklich öffnen.
Nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb von Parteien müssen wir stets auf der Hut sein. Politische Exzentriker können wir uns nicht leisten. Exzentrik heißt, aus dem Zentrum herauszuflüchten und an die extremen Ränder zu drängen. Dort werden aber nur Stimmungen aufgeheizt und keine Antworten gegeben. Das ist kein guter Platz für demokratische Parteien und gewiß auch nicht für die Wähler, die letzten Endes in der Lage sind, zu beweisen, daß sie die wahren Politiker sind. (...)
Wahrhaft aufregende Perspektiven zeichnen sich ab. Die großen Mächte stoßen an ihre Grenzen. Die Probleme, vor denen sie stehen, lassen ihrer Natur nach kaum noch interne oder konfrontative Lösungen zu. Ihre Waffensysteme können sie nur noch um den Preis der Selbstvernichtung einsetzen. Über den Rang einer Weltmacht entscheidet in wachsendem Maße ihre wissenschaftliche und technische, ihre wirtschaftliche und soziale Kraft im Innern und ihre Wettbewerbsfähigkeit im Weltmaßstab.
Auch die sowjetische Führung hat dies erkannt. Wenn sie im globalen Vergleich nicht immer weiter zurückfallen will, muß sie ihr eigenes System aus seiner Erstarrung lösen. Sie leitet umfassende Reformen ein. Dabei erkennt sie immer klarer, daß sie nur dann Erfolg haben kann, wenn sie sich Schritt für Schritt unseren Grundsätzen annähert: Sie muß dezentralisieren, Selbstverantwortung ermutigen, persönliche Leistung belohnen, den Bürger rechtsstaatlich besser schützen, seine Stimme politisch ernst nehmen, öffentliche Kritik zulassen und sich um Wahrhaftigkeit gegenüber der eigenen Geschichte bemühen. (...)
Damit stehen wir im Westen vor einer gewaltigen Probe. Veränderungen drüben erfordern neues Denken auch bei uns. Unter den Bedingungen des kalten Krieges war es leicht, einig zu sein. (...)
Einigkeit im Westen brauchen wir heute erst recht, sowohl um der Risiken als auch um der Chancen willen. Wir müssen entschlossen sein und imstande bleiben, unsere Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber jedermann zu schützen. Wir brauchen Bündnis und Bundeswehr. Es gilt, wie bisher, so auch in Zukunft, den Krieg zu verhindern. Dazu haben wir unseren Wehrdienst, und es wäre klarer, wenn im Grundgesetz vom Recht zur Verweigerung nicht des Kriegsdienstes, sondern des Wehrdienstes die Rede wäre. Er ist kein Kriegsdienst, sondern ein Kriegsverhinderungsdienst. Das sollte jeder wissen, der sich prüft, ob er aus Gewissensgründen von seinem verfassungsmäßigen Recht der Verweigerung Gebrauch machen will. (...)
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