Ignoranz tötet

■ Für eine Aids-Politik für und mit den Hauptbetroffenen - nicht gegen sie

DEBATTE

„Aids geht jeden an!“, so springt es einem seit geraumer Zeit von Litfaßsäulen entgegen, tönt es aus Radioempfängern und Fernsehgeräten - wenn es tönt. Denn eigentlich ist die Katastrophenkonjunktur längst über die Immunschwächekrankheit hinweg. Jede/r hat seinen/ihren kleinen Schauer, der ihm oder ihr über den Rücken lief und man benutzt nun Kondome oder läßt es sein.

Seit in München der Staatssekretär Gauweiler für Spannbetonbauten zuständig ist, wird die restriktive bayerische Variante von Aids-Politik auch längst nicht mehr so lärmend betrieben. Mit Aids läßt sich heute kaum noch jemand hinter dem Ofen hervorlocken, längst sind andere „Kataströphchen“ in die Fußstapfen der Krankheit getreten: Ozonloch, Öl-Katastrophe in Alaska etc. Man hat sich gewöhnt an die monatlichen Meldungen über gestiegene Krankenzahlen und neue HIV-Infektionen. Und die Gewöhnung ist leicht, hat doch Aids die Lebenswelt der nicht-drogengebrauchenden, heterosexuellen Mehrheit lange noch nicht erreicht. Gelitten und gestorben wird im Verborgenen, fernab der Aufmerksamkeit des Publikums.

Manche geht Aids mehr an als „jeden“. Seit dem Beginn der Aids-Krise kommen in den westlichen Industrieländern über 80 Prozent der Kranken und der Toten aus den Hauptbetroffenengruppen der Schwulen und der Fixer. Für diese Gruppen war Aids nie „der kleine Schauer“, für sie war die Krankheit harte Realität. Waren Ende 1984 noch 134 Kranke offiziell gemeldet, sind es fünfeinhalb Jahre später bereits 3.200, nahezu die Hälfte von ihnen ist bereits gestorben. Und die Zukunft sieht düster aus: allein unter den geschätzten 100.000 schwulen Männern in West-Berlin, so vermutet man, ist jeder fünfte HIV-infiziert: das wären 20.000 Menschen. Bei der kleineren Gruppe der 8.000 Berliner FixerInnen wurden Infektionsraten zwischen 30 und 60 Prozent festgestellt. Wie viele dieser HIV-positiven Berliner letztlich überleben werden, kann heute noch niemand sagen. Aids - das ist der Inbegriff der sozialen Katastrophe für die Hauptbetroffenengruppen. Diese Katastrophe stoppen könnten nur politische Anstrengungen für Schwule und Fixer, Aids-Politik für und mit ihnen sein. Zur Zeit ist sie alles andere als das.

Aus der Aids-Aufklärung der Bundesregierung fallen die Hauptbetroffenengruppen schon immer heraus. Kein Plakat, kein Fernseh- oder Kinospot, der ihnen eine Botschaft mit auf den Weg gibt oder ihre Lebensstile berücksichtigt. Gerechtfertigt wird dies mit der Aufgabenteilung zwischen Staat und Selbsthilfegruppen. Doch die Aids-Hilfen werden an der kurzen Leine gehalten. Sie haben zwar meist einen riesigen Personalapparat, aber selten Mittel für breitenwirksame Informationskampagnen. Und wie sollen Selbsthilfegruppen jene Jugendlichen erreichen, die gerade im Coming-out sind oder noch in der Schule beginnen zu fixen? Wie soll eine Aids-Hilfe den 50jährigen versteckten Homosexuellen erreichen, der einmal im Monat in den Stadtpark geht? Diese Leute sind nur über die Massenmedien zu erreichen. Statt Gelder für derartige Kampagnen zur Verfügung zu stellen, übt sich das Bundesgesundheitsministerium im Verbot. Sobald Aufklärungsmaterialien zu offen gestaltet werden, gibt es keinen Bewilligungsbescheid für die Maßnahmen. In Köln wurde eineinhalb Jahre auf die Finanzierung für ein Stopp-Aids -Projekt für die dortigen Schwulen hingearbeitet. Bundesministerin Lehr sagte nun endgültig ab, und die Initiative muß sich nach Privatgeldern umschauen. Der britische Aids-Aktivist Simon Watney kommentiert: „Jede Seuche unter Katzen und Hamstern hätte mehr Mitleid ausgelöst, als es Aids gegenüber seinen menschlichen Opfern vermag.“

Noch offensichtlicher ist der Skandal in der Forschungspolitik. „Aids ist eines der vorrangigsten Gesundheitsprobleme“, so oder ähnlich tönten bundesdeutsche Gesundheitspolitiker vor nicht allzu langer Zeit. Doch wie sieht die Realität aus? Seit 1984 hat das Bundesforschungsministerium nach eigenen Angaben genau 34,2 Millionen Mark für Aids-Forschung ausgegeben: eine lächerliche Summe. Bei der gegebenen hohen Infektionsrate in den Hauptbetroffenengruppen kann nur die Entwicklung einer Therapie ein Massensterben unter Schwulen und Fixern verhindern. Doch von 34,2 Millionen gingen nur 11,7 Millionen wirklich in die Therapieforschung. Allein 8,2 Millionen wurden für die Weiterentwicklung des HIV-Tests ausgegeben, für das Instrument der Kontrolle, der Ausgrenzung, der Isolierung in der Aids-Politik.

Aktuelle Zahlenvergleiche machen deutlich, welche „Priorität“ Bonn der Bewältigung der Aids-Krise einräumt. Kürzlich verkündete Minister Riesenhuber den Einstieg der BRD in die Weltraumfahrt. Eine D2-Mission mit dem US-Space -Shuttle wird den Steuerzahler 780 Millionen Mark kosten, bis zum Jahr 2000 will die Bundesregierung sich die All -Reise bis zu 30 Milliarden Mark kosten lassen. Wie wäre es, wenn man in Bonn für die Aids-Forschung bis zum Jahr 2000 auch nur ein Zehntel dieser 30 Milliarden investieren würde? „Hätten 40.000 weiße Hausfrauen in den Vorstädten diese Krankheit, sie hätten schon längst die Budgets geöffnet“, stellte der Pop-Sänger Sylvester kurz vor seinem Tod fest.

Darf man eine solche Politik Mord an den Hauptbetroffenen der Aids-Krise nennen? Man darf es nicht, denn Mord ist im juristischen Sinne eine vorbereitete Handlung zur Tötung anderer. In der Aids-Politik ist aber das Problem gerade, daß eben nicht (im ausreichenden Maße) gehandelt wird. Doch wo ist der moralische Unterschied zwischen einem Programm, das „diesen Rand ausdünnen“ will (Bayerns Kultusminister Zehetmaier 1987 über Schwule), und einer Politik, die sich zurücklehnt, die Hände in den Schoß legt - und das HIV-Virus für sich arbeiten läßt? Ignoranz tötet - nie stimmte dieser Satz mehr als bei Aids.

Warum unterbleibt der Protest der Betroffenen? Die einen die Fixer - können nicht schreien: sozial deklassiert und isoliert haben sie in diesem Lande keine Stimme. Und die Schwulen haben Angst, Angst vor neuer Verfolgung. Die 70er und 80er Jahre waren für Homosexuelle die Zeit der Befreiung. Nach der deutlichen Entschärfung des § 175 StGB im Jahre 1969 begann erstmals eine Phase, in der bestehende Vorurteile gegen Schwule und Lesben angegangen und aufgebrochen werden konnten. Aids droht all dies wieder zunichte zu machen, droht Anlaß neuer Ausgrenzung zu werden. Angst sitzt tief. Der Slogan „Aids geht jeden an“ ist eine Erfindung der Aids-Hilfen. Gemünzt war er gegen die Denunziation von Aids als „Schwulenkrebs“. Bis 1982 hieß Aids noch GRID: gay related immundefience defect. Mittlerweile hat sich der Slogan in sein Gegenteil verkehrt, wird er dazu gebraucht, Aids zu einer „normalen“ Krankheit zu erklären und die Opfer zu vergessen.

In wenigen Wochen jähren sich Ende Juni die Ereignisse der New Yorker Christopher Street, der militante Widerstand von Schwulen gegen die Polizei, zum zwanzigsten Mal. Es bleibt zu hoffen, daß die Schwulen begreifen, daß sie heute nicht nur für ihre (sexuelle) Freiheit, sondern für ihr Überleben als Individuen und als soziale Gruppe auf die Straße gehen. 20 Jahre Schwulenbewegung - das kann 1989 nicht Anlaß zu unreflektierten Jubelfeiern sein, sondern sollte den Kampfgeist von 1969 in Erinnerung rufen. In Sachen Aids wird niemand die notwendigen Forderungen erheben, wenn es die Schwulen nicht selber tun. Unterlassen sie es, wird der fünfundzwanzigste Geburtstag der Schwulenbewegung im Totenhaus gefeiert.

Andreas Salmen

Mitglied der Redaktion der Berliner Schwulenzeitung 'Siegessäule‘, im Beirat des Bundesverbandes Homosexualität (BHV) und als Politikwissenschaftler in der Forschungsgruppe Gesundheit im Wissenschaftszentrum Berlin tätig.