Präsident Gorbatschow führt Regie

■ Der erste Tag des neuen Kongresses / Wahl des Staatspräsidenten ohne Aussprache / Konkurrent Jelzin

Berlin (dpa/ap/taz) - Nun ist er doch zum Gegenkandidaten Gorbatschows für das Amt des Staatspräsidenten geworden. Boris Jelzin, der überragende Gewinner der Wahlen von Moskau, wurde gestern nachmittag überraschend von einem Abgeordneten aus Swerdlowsk als Gegenkandidat Gorbatschows für die Wahlen zum Staatsoberhaupt ins Spiel gebracht. Bei den Mehrheitsverhältnissen im Kongreß der Volksdeputierten, der gestern in Moskau seine Arbeit aufnahm, herrschte jedoch kein Zweifel, wer als Sieger aus der Wahl hervorgehen wird. Michail Gorbatschow, vom Schriftsteller Dschingis Aitmatow offiziell vorgeschlagen, durfte für seine Wahl gestern abend eine überwältigende Mehrheit der Deputierten erwarten. (Die Ergebnisse lagen bei Redaktionsschluß noch nicht vor.)

Die meisten Reformer waren über den Verlauf der Sitzung des Kongresses der Volksdeputierten jedoch aus anderen Gründen als Jelzin enttäuscht. Der hatte es immer abgelehnt, gegen Gorbatschow anzutreten. Gerade jene Deputierten, denen es gelungen war, trotz erheblicher Widerstände im Vorfeld der Wahl aus dem Apparat doch noch - zumeist mit großer Mehrheit - vom Volk gewählt zu werden, konnten die von Gorbatschow vorgegebene Tagesordnung nicht mehr umstürzen. Im Selbstbewußtsein seiner Macht nahm Michail Gorbatschow die mit dem Politbüro abgestimmte Regie von Anfang an in die Hand. Die Argumente gegen seine Wahl zum Staatspräsidenten, die schon am letzten Sonntag von Boris Jelzin angeklungen waren, schlug er in den Wind.

Und auch Andrej Sacharow konnte gestern nichts mehr ausrichten. „Kommt uns das Recht zu, einen Staatschef zu wählen, bevor wir über den ganzen Fächer politischer Fragen diskutiert haben, die das Los unseres Landes bestimmen?“ fragte Sacharow das Auditorium. „Wir würden uns vor dem Volk diskreditieren“, zog er die Bilanz. Ohne einen Zweifel daran zu lassen, daß Gorbatschow der geeignete Mann für die Stellung des Staatspräsidenten wäre, wollte Sacharow wie die meisten radikaleren Reformer doch über die Inhalte der Perestroika und über den Rechenschaftsbericht Gorbatschows vor dessen Wahl befinden - demokratisch eben. Das neue Verfassungsorgan sollte tatsächlich seine Macht zeigen können. Die neue Gesetzlichkeit sollte über die Taktik Machterhaltung dominieren. Dazu ist es nicht gekommen.

Nach einer konfusen Geschäftsordnungsdebatte wurde gestern vormittag abgestimmt: Nur 379 der 2.155 Deputierten wollten die Tagesordnung im Sinne Sacharows verändern. Neun Abgeordnete enthielten sich. Die überwältigende Mehrheit stimmte Gorbatschow zu. Die Diskussion über die Zukunft der Perestroika wird erst nach der Wahl des Staatsoberhaupts und des Obersten Sowjet beginnen. Das Gremium soll außerdem den Ministerpräsidenten, den Generalstaatsanwalt und den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes bestätigen und schließlich auch einen Verfassungskontrollrat wählen.

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