„Die Rushdie-Akte“

■ Ein Trauerspiel oder: Hoch lebe der Vierte Stand!

Bernhard Robben Vorspiel

Salman Rushdie lebt. Am 14.Mai hat er in der Sonntagszeitung 'The Observer‘ einen nachgelassenen Essayband von Bruce Chatwin besprochen. Ein Artikel unter vielen. Mit keinem Wort wurde auf die prekäre Situation seines Autors verwiesen, auf den alltäglichen Polizeischutz, mit dem er zu leben hat, auf den (un-)regelmäßigen Wohnungswechsel. Warum auch? Kann man ihm etwas Besseres wünschen, als daß die Affäre um ihn und sein Buch bald vergessen ist und er wieder ein normales Leben führen kann? Reden wir nicht mehr von Rushdie, schreiben wir nicht mehr über Rushdie. Kein Wort mehr, vielleicht hat er dann endlich seine Ruhe.

So oder ähnlich mochte die Chefetage des britischen Verlagshauses Collins gedacht haben, als sie zwei Autorinnen ein bereits akzeptiertes Manuskript wieder zurückgab. Aber Salman Rushdie darf man Vergessen wünschen; für sein Buch und die Fragen, die es bei seinen Lesern und Nichtlesern aufgeworfen hat, darf man das nicht. Und so hat die Affäre Rushdie einen neuen Skandal zu verzeichnen. Und ein weiteres Mal fehlte Buchhändlern das nötige Rückgrat, ein Buch ihrer Autoren zu Markte zu tragen. I.Akt

Ein Buch gegen das Vergessen

Der Reihe nach. Am 19.März, einen Monat nach Ayatollahs Todesdrohung gegen den Schriftsteller Salman Rushdie und sechs Monate nach Veröffentlichung seines Buches Die satanischen Verse lud das „Institut für Kunst“ in London zu einer Konferenz zum Thema „Rushdie“. Schriftsteller, Kritiker und Journalisten wollten eine erste Einschätzung der „Affäre Rushdie“ versuchen. Zu ihnen gehörten auch Sara Maitland, eine Schriftstellerin, die als überzeugte Christin religiöse Fragen mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt, und Lisa Appignanesi, die stellvertretende Direktorin des „Instituts für zeitgenössische Kunst“. Im Verlauf der Konferenz gelangten die beiden Frauen zu der Auffassung, daß die Todesdrohung des Ayatollahs die notwendige Diskussion keineswegs intensiviert, sondern sie zunehmend verhindert hatte. Hier der Mordaufruf, dort die Forderung nach der Freiheit des Wortes, dazwischen machten sich Schweigen und Vergessen breit.

Im postkulturellen Zeitalter, in dem sich Beiträge strikt an den Drei-Minuten-Takt halten müssen, wollen sie unsere Aufmerksamkeit nicht überbeanspruchen, ist ein drei Monate alter Skandal, selbst wenn er die Grundlagen der westlichen Kultur in Frage stellen sollte, ein journalistischer Methusalem. Adrenalin-Spritzen direkt ins Herz halten ihn nur mühsam am Leben: Brandanschläge auf Londoner Buchläden, ein Theaterstück „in memoriam“ Rushdie, ein erschossener Mullah in Belgien. In dieser Situation sollte die Konferenz in London die zu erwartende Hinterlassenschaft der Affäre sichten und Fragen wiederbeleben, die verloren zu gehen drohten. Was zum Beispiel, so fragte man sich, bedeutet ein unterschiedliches Toleranzverständnis der islamischen und der westlichen Welt für die Idee der multikulturellen Gesellschaft? Welche Konsequenzen für das Zusammenleben von Moslems und Europäern sind zu erwarten? Welche Formen des Protestes stehen einem Moslem offen, der sich von den Inhalten eines Romans zutiefst verletzt fühlt? Kann ein Roman, eine fiktive Darstellung der Wirklichkeit, überhaupt verletzen?

Sara Maitland und Lisa Appignanesi beschlossen, die wichtigeren, in den letzten Monaten in der internationalen Presse veröffentlichten Artikel wie auch auf der Konferenz vorgetragene Reaktionen und Überlegungen zu Rushdies Buch zu sammeln und zu veröffentlichen. Sie beauftragten ihren Agenten Hilary Rubinstein, sich nach einem geeigneten Verlag umzusehen. Collins, das ehemals schottische Verlagshaus, das erst vor wenigen Monaten vom Medienriesen Rupert Murdoch aufgekauft worden war, war von der Idee begeistert. Es beauftragte die beiden Autorinnen, das Material so rasch wie möglich zusammenzustellen. Bereits im Juni wollte man das Buch auf den Markt bringen. Denn, so Sara Maitland, das Eisen sollte geschmiedet werden, solange das Feuer noch heiß war und das Vergessen noch nicht vollständig um sich gegriffen hatte. Am 16.April lag den Lektoren ein Manuskript von 100.000 Worten vor, das in enger Zusammenarbeit mit dem Verlag erstellt worden war. Allgemeine Begeisterung. Champagner. Vorhang zu? Keineswegs. Bitte setzen Sie sich wieder hin. Der Höhepunkt des Theaterstücks, genannt „die Rushdie-Akte“, steht Ihnen noch bevor. II.Akt

Ein Verlag vergißt

Zwei Tage nach dem Champagner teilt Collins den Autorinnen mit, man könne das Buch nicht drucken. Man nuschelt, man druckst, aber endlich wird deutlich, daß die Konkurrenz sich eingeschaltet hat. Und der Konkurrenz, so ist das nun mal im Buchgeschäft, tut man schließlich jeden Gefallen. Trevor Glover von Penguin/Viking, der Verlag, der Salman Rushdies Roman herausgibt, habe zwischenzeitlich bei Collins angerufen, hieß es, und sich gegen eine Veröffentlichung des geplanten Buches ausgesprochen. Penguin lebe seit Monaten wie in einem Belagerungszustand, und der Verlag habe kein Verlangen danach, erneut den Staub öffentlichen Interesses zu schlucken, den das Buch mit dem vorläufigen Titel Das Rushdie-Dossier aufwirbeln könnte. Mag sein, flüstert der Souffleur, daß Penguins Eintreten für das freie Wort darunter leidet, daß der Einbau neuer Sicherheitsvorkehrungen den Großteil der Einnahmen aus dem Verkauf des Mega-Bestsellers verschlingt, aber solcherlei Bemerkungen dringen selten bis zum gewöhnlichen Publikum durch.

Collins jedenfalls ließ die Autorinnen wissen, daß eine Veröffentlichung des Buches nur mit Zustimmung des Penguin -Verlags erfolgen könne. Vorsorglich und wohl in weiser Voraussicht dessen, was da kommen sollte, kürzte man die eingereichte 100.000-Worte-Version des Buches auf bloße 60.000 Worte. Auf eine Nachfrage der Autorinnen gab Penguin zwar zu, „besorgt“ zu sein, behauptete jedoch, sich niemals gegen eine Veröffentlichung des Buches ausgesprochen zu haben. Woraufhin Collins, verzweifelt nach neuen Ausflüchten ringend, meinte, jetzt wüßte man auch nicht weiter, die Entscheidung müsse nun auf höchster Verlagsebene gefällt werden. Die Repräsentantin des Murdoch-Konzerns in England, Sonia Land, derem Aufgabenbereich der Verkauf der Bücher, keinesfalls jedoch deren inhaltliche Bewertung unterliegt, brauchte zwei Wochen, um für die 60.000 Worte das Urteil nicht „objektiv“ genug, „unausgewogen“ und „langweilig“ zu fällen. Sie monierte besonders das Fehlen von Artikeln, die sich kritisch mit dem Buch Rushdies auseinandersetzten. So sei zum Beispiel der Brief des Schriftstellers Roald Dahl nicht abgedruckt, in dem Rushdie vorgeworfen wird, er hätte in der Hoffnung auf einen Skandal und mit der Absicht, seine eigene Popularität und den Verkauf des Buches zu fördern, den islamischen Glauben in blasphemischer Weise dargestellt.

Sonia Land vergaß zu erwähnen, daß dieser Brief wenige Tage zuvor vom Verlag selbst aus dem eingereichten Manuskript herausgekürzt worden war. Sie vergaß, daß das Buch Radiomitschriften des iranischen Radios enthält, daß es die drei berühmten Teheraner Predigten wiedergibt, daß Beiträge aus indischen Zeitungen ebenso wie aus französischen, deutschen, italienischen, ägyptischen und amerikanischen Medien wiedergegeben sind. Neunzig Prozent des Buches, errechnete sie, seien den liberalen englischen Tageszeitungen 'The Guardian‘ und 'The Independent‘ entnommen. „Kein besonders gutes Zeichen für das neue Management des Verlages“, witzelt Lisa Appignanesi, „wenn die Verkaufschefin nicht einmal die Prozentrechnung beherrscht.“ Oder sollte es sich um eine höhere Form der Mathematik handeln, etwa einer, der die Verkaufszahlen des Murdoch-Konzerns im Nahen und Mittleren Osten zugrunde liegen? III.Akt

Der tapfere kleine Ritter

Wie es im Leben so spielt, geht das Theaterstück gut aus. Das Buch wird Ende Juni veröffentlicht. Natürlich nicht von Collins. Ein junger, aber rühriger Londoner Verlag namens „Fourth Estate“ (Vierter Stand), der im letzten Jahr den „Preis für den besten Verlag des Jahres“ gewann, hat dem Buch seinen Antrag gemacht. Er wurde angenommen. Das gerupfte Buch wurde wieder mit den alten, neuen Federn geschmückt, und es wurde ihm ein neuer Titel gegeben. Die Rushdie-Akte sei jetzt sehr ausgeglichen, meint Victoria Barnsley, die Lektorin des Verlages, in einem Telefongespräch. Angst vor einer zu stürmischen Reaktion der englischen Moslems auf das Erscheinen des Buches habe sie deshalb eigentlich nicht. Zum Schluß frage ich sie dann noch nach der Bedeutung des Verlagsnamens. Er sei, sagt sie, auf eine Bemerkung des Publizisten Edmund Burke zurückzuführen, der wenige Jahre nach der französischen Revolution während einer öffentlichen Veranstaltung zur Galerie hochzeigte, die mit Journalisten, Buchmachern und Verlegern besetzt war, und sagte: „Und dort, meine Damen und Herren, sehen Sie den Vierten Stand!“ Unter „Stand“ lese ich in meinem Lexikon: „Mitglieder einer gesellschaftlichen Großgruppe, die sich durch besondere Rechte, Privilegien und Pflichten sowie durch ihre gesellschaftliche Funktion und sittlich -moralische Anschauung von anderen Ständen abgrenzt.“ Ein Hoch auf den Vierten Stand, den kleinen tapferen Retter. Nachspiel

Hierzu wird der Ort des Geschehens gewechselt. Man begibt sich geschlossen aus den Räumen des Collinschen Verlagshauses auf die Straßen Londons und mischt sich unter die Menge. Am Samstag, 27.Mai, wird eine Demonstration gegen „Rushdie“ stattfinden. Die moslemische Kultur scheint gegen Langzeitfolgen des Fernsehens resistenter zu sein. Ihr Gedächtnis jedenfalls überbrückt selbst Zeitspannen von drei Monaten mühelos. Sie hat nichts vergessen. Man erwartet, heißt es, eine halbe Million Demonstranten.