DemonstrantInnen zwingen Deputierte zur Diskussion

Gorbatschow mit 95,6 Prozent zum Staatspräsidenten gewählt/ Reformer erleiden wegen des Demonstrationsverbots Abstimmungsniederlage im Kongreß der Volksdeputierten / Stürmische Debatten in Moskau / Partleiloser Abgeordneter aus Leningrad wollte gegen Gorbatschow kandidieren  ■  Von Erich Rathfelder

Berlin (taz) -Als die Soziologin Tatjana Saslawskaja ans Mikrophon trat, war die Spannung im Saal gestiegen. Saslawskaja, die es nach langem Hin und Her an ihrem Institut doch noch geschafft hatte, als Deputierte aufgestellt zu werden und zu den profiliertesten Köpfen der Perestroikabewegung gehört, klagte nicht nur an. Daß aber schon am ersten Tag einige Demonstranten, die lediglich mit Deputierten vor der weitläufigen Absperrung des Moskauer Kremls sprechen wollten, von Milizionären festgenommen wurden, trieb ihr die Röte auf die Stirn. „Die Demonstranten hatten sich auf dem Puschkin-Platz versammelt, zwei Kilometer vom Kreml entfernt. Als sie merkten, daß die Deputierten auf anderen Wegen in den Kreml geleitet wurden, machten sie sich auf in Richtung Kreml. Und dabei wurden sie verhaftet.“ Konsequent schlug die resulute Reformerin vor, das „Demonstrationsgesetz während der Dauer des Kongresses auszusetzen“.

Das wollte der Innenminister, Wadim Bakatin, nicht so stehen lassen. Im Stile seiner Amtskollegen westlicher Länder bestritt er irgendeine Schuld der Ordnungskräfte, wies darauf hin, daß die Sondertruppen keinen Eingreifbefehl hatten und niemand „gejagt worden sei“. Und überhaupt sei die Demonstration nicht genehmigt gewesen. Genehmigte Demonstrationen könnten natürlich stattfinden.

Doch so einfach ist dies auch in der Sowjetunion des Umbruchs nicht. Der als Sprecher der „Demokratischen Union“ fungierende Deputierte Juri Mitjunow verteidigte den Protestmarsch als ein lebendiges Beispiel für die Demokratie. Die Menschen versammelten sich auf dem Puschkin -Platz, um teilzuhaben an den Diskussionen bei dem Kongreß und um eigene Forderungen zu artikulieren. „Sie haben uns gebeten, jeden Abend nach den Sitzungen zu ihnen zu gehen und mit ihnen zu diskutieren“, berichtete der Deputierte Andrej Sacharow. „Wir dürfen diese Menschen nicht mit Polizeieinheiten umzingeln, schon gar nicht von den Einheiten des Innenministeriums“, von „einer gewissen Division Dschersinski, die erst kürzlich in Tiflis (dort hatte die Sondertruppe ein Blutbad unter georgischen DemonstrantInnen angerichtet) ihre Schlagkraft unter Beweis gestellt haben“. Tatsächlich, so der Abgeordnete Stankewitsch, seien etwa „2.000 Demonstranten von einem Kordon aus Milizionären eingekesselt worden“, und dies seien „antidemokratische Praktiken“. Unter frenetischem Beifall der Versammlung, forderten die Reformer mit Nachdruck die Abstimmung über den Antrag Saslawskajas.

Endlich ließ Gorbatschow, der auch als Versammlungsleiter fungierte, über den Antrag abstimmen. Und während der Abstimmung teilte er mit, die Stadtverwaltung in Moskau wolle Versammlungen in einem anderen Park, dem Luschniki -Sportpark-Komplex zustimmen. War das ein Kompromiß? 831 Abgeordnete unterstützten weiterhin den Vorschlag Saslwaskajas. Doch 1.261 Deputierte folgten der Argumentation des Innenministers und dem Vorschlag Gorbatschows.

Auch wenn das Abstimmungsergebnis das Kräfteverhältnis zwischen Konservativen und Reformern und damit eine konservative Mehrheit anzuzeigen scheint, der Volksdeputiertenkongress elektrisiert schon nach dem ersten Tag wie die Wahlen im März das ganze Land. Was sich jetzt im Kreml abspielt, sind nicht mehr die Rituale aus vergangener Zeit, es sind politische Auseinandersetzungen, die ihre eigene politische Dynamik entfalten. Von einer ausgeklügelten Regie der Veranstaltung kann nicht mehr gesprochen werden. Versuchte Gorbatschow noch am Donnerstag, die Tagesordnung mit harter Hand durchzusetzen, so hat die Diskussion über den Einsatz der Sondertruppen und die Demonstrationen die Tagesordnung des zweiten Tages schon durcheinandergebracht. Wird Boris Jelzin Vizepräsidend?

Gorbatschow ist als Staatsoberhaupt gewählt - wenn auch verspätet. Erst am späten Donnerstag nachmittag wurde er mit 2.123 Stimmen bei 87 Gegenstimmen und elf Enthaltungen der mächtigste Mann im Staate. Es zeigte sich wieder einmal, daß der Parteichef der Nenner ist, auf den sich die heutige sowjetische Gesellschaft einigen kann. Es war auch keine Überraschung, daß Boris Jelzin, der noch im letzten Augenblick als Gegenkandidat vorgeschlagen wurde, zurückgezogen hat. Der Volkstribun, der in Moskau über fünf Millionen Wähler hinter sich weiß, ließ jedoch einen Schatten auf seine Redlichkeit fallen, als bekannt wurde, er habe am Dienstag mit Gorbatschow in einem Gespräch unter vier Augen über das Amt eines Vizepräsidenten gesprochen just an dem Tage, an dem er als Vizebauminister zurückgetreten ist.

Machtkonzentration bei Gorbatschow

Doch überraschte der mutige Auftritt des parteilosen Leningrader Abgeordneten Alexander Obolenski, der sich selbst (schmunzelnd und unter dem Gelächter des Auditoriums) als Gegenkandidat zu Gorbatschow vorschlug - aus Prinzip, wie er ausführte. Immerhin 689 Ja-Stimmen konnte er für seine Kandidatur auf sich vereinigen, über 1.400 waren allerdings gegen Obolenski, und so blieb Gorbatschow einziger Kandidat.

Von seiner Machtstellung her kann Gorbatschow nun schalten und walten wie er will. Mit dem neuen Amt, das mehr Kompetenzen hat als vorher, ist er für fünf Jahre unangreifbar und bestimmt unangefochten die Leitlinien der Innen- und Außenpolitik. Auf kritische Einwände gegen diese Machtkonzentration antwortete Gorbatschow, es sei „in der gegenwärtigen Etappe unverzichtbar“, das Amt des Staatschefs mit dem des Parteichefs zu vereinen. Und dem stimmen - jetzt noch - viele Sowjetbürger zu. Durch seine Machtfülle sei Gorbatschow der Garant dafür, daß die Perestroika unumkehrbar sei. Einige Abgeordnete sahen darin einen Hemmschuh: Sie forderten Gorbatschow auf, nun die Parteiämter niederzugelegen und sich ausschließlich seinen Aufgaben als Staatsoberhaupt zu widmen.