: Eine Lehrstunde der Demokratie
■ Dynamischer Kongreß der Volksdeputierten in Moskau / Jelzin hofft auf „starken“ Obersten Sowjet / Historiker Medwedjew: „Mit so vielen Nein-Stimmen hat Gorbatschow nicht gerechnet“
Moskau (dpa) - „Ich würde am liebsten hier vorne Stühle aufstellen, wenn ich die Liste der Antragsteller betrachte“, scherzt KPdSU-Chef Michail Gorbatschow, seit wenigen Stunden als Staatspräsident auch formell der mächtigste Mann der UdSSR. Vor dem Podium des Präsidiums des Moskauer Volksdeputiertenkongresses drängeln sich die Redner. Das Nationalitätenproblem, Kritik an der Polizei, der offensichtliche Giftgaseinsatz in Georgien, die Professionalität der Abgeordneten des zukünftigen Parlaments - der Redeschwall der Delegierten ist kaum zu bremsen.
„Früher“, sagt ein Abgeordneter, „wurde doch nur Theater gespielt.“ Früher - das war schweigende und einmütige Akklamation zu den Plänen der Regierung. Heute ist Bewegung in den Reihen. Einer schreit plötzlich in den Saal, um seine Meinung zu sagen, ein empörtes Raunen geht durch die Menge von 2.200 Delegierten, als ihnen ein Tagesordnungspunkt nicht gefällt.
Früher - das war auch die Verlesung vorbereiteter Redetexte durch greise Volksvertreter. Heute stürmen dynamische 40jährige zum Mikrofon, tragen in knappen Sätzen aus dem Stegreif vor. Beifall wird zum wirklichen Zeichen von Zustimmung oder Ablehnung.
„Wir haben eine große Lehrstunde in Demokratie erlebt“, meint Marcelijus Martinaitis, Mitglied der litauischen Kongreßdelegationen. Auch wenn sich die Delegierten noch zu viel in Kleinigkeiten verlieren und noch undiszipliniert diskutieren. Die baltischen Delegierten wollen im Kongreß vor allem Pläne über die Selbstständigkeit ihrer Republiken vortragen. Ein weiteres Anliegen ist ihnen die Annullierung des Hitler-Stalin-Pakts.
Ein moslemischer Geistlicher im schwarzen Kaftan gibt zu: „So viel Offenheit haben wir nicht erwartet.“ Auch Historiker und Stalinkritiker Roy Medwedjew ist hoffnungsfroh über die zarten Anfänge parlamentarischer Demokratie. „Ein Zeichen dafür sind sicherlich die Gegenstimmen bei der Wahl Gorbatschows. Mit so vielen Nein -Stimmen hat er selbst nicht gerechnet.“ Die Regierungszeitung 'Iswestija‘ schrieb am Freitag, der erste Tag habe „nicht enttäuscht. Ja mehr noch, er hat die Hoffnungen gestärkt. Vielleicht war das für den ersten Tag nicht allzu wenig.“
Moskaus Ex-Parteichef Boris Jelzin, radikaler Verfechter politischer und ökonomischer Reformen und während des Kongresses ständig von einer Traube seiner Anhänger umgeben, warnt allerdings davor, die Erwartungen zu hoch zu schrauben. „Möglicherweise werden zu hohe Erwartungen enttäuscht. Jetzt kommt es darauf an, einen starken, progressiven Obersten Sowjet zu wählen, denn von ihm wird in nächster Zeit sehr viel abhängen.“
Gudrun Dometeit
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