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G E W I S S E N N I C H T G E F R A G T

 ■  Gastkolumne von Klaus Eschen

Das Gewissen ist das letzte, worauf man sich hierzulande berufen darf. Abgelehnte Kriegsdienstverweigerer, Atomkraftgegner und Umweltschützer wissen das. Neuerdings weiß es auch die Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses Hilde Schramm, seit sie sich weigerte, bei Eröffnung der Parlamentssitzung vom 25. Mai die Floskel vom „Fall der Mauer und der Wiedervereinigung mit der Hauptstadt Berlin“ zu sprechen .

Was Bundeskanzler Kohl „einen politischen Skandal“ nannte, war nichts anderes als die Wahrnehmung eines verfassungsmäßigen Rechtes, nämlich daß Abgeordnete, sei es des Bundestages oder der Länderparlamente, nicht an Weisungen gebunden, sondern nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes sagt dies ausdrücklich für den Bundestag. Die Verfassung von Berlin enthält keine solche Vorschrift, doch ist die Geltung dieses Grundsatzes auch für das Berliner Parlament verfassungsrechtlich unbestritten. Es gibt auch keine Rechtsnorm, die dem Parlamentspräsidenten eine solche Eingangsfloskel vorschreibt. Weder die Verfassung von Berlin noch ein Gesetz, ja nicht einmal die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses enthalten auch nur ein Wort darüber.

Mit anderen Worten: Hilde Schramm hat nichts anderes getan, als entsprechend ihrem Verfassungsauftrag als Abgeordnete ihr Gewissen ernst zu nehmen und ihm gegenüber einem hohl gewordenen Einverständnis aus der Zeit des Kalten Krieges den Vorrang zu geben. Sie hat damit die Mauer eines anachronistischen Rituals eingerissen, die, hätten die Abgeordneten früherer Zeiten nur den Mut dazu gehabt, schon viel früher hätte fallen müssen.

Die Kritik an Hilde Schramm, die Tatsache, daß auch im Parlament die Gewissensentscheidung einer Volksvertreterin nicht mit Respekt, sondern mit Diffamierung beantwortet wird, bestätigt die Befürchtung, daß das Gewissen in der Wertordnung der Parlamentarier offenbar zu allerunterst rangiert.

Noch eine Anmerkung zu Kohl: In Frankfurt hat ein Stadtrat den Bundespräsidenten einen „Lumpen“ genannt und sich über die Juden in Goebbels-Manier geäußert. Weder der Bundeskanzler noch sein Presseamtsminister, der Waffen-SS -Verehrer Klein, haben bislang hierzu das eine oder andere starke Wort gefunden.

Klaus Eschen ist Rechtsanwalt

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