: Ausnahmezustand in Argentinien
Auslöser: Plünderungen von Supermärkten / Innenminister beschuldigt extreme Linke / Repression der Polizei fordert mindestens zwei Todesopfer und 36 Verletzte ■ Aus Buenos Aires Harald Paul
Nach einer Welle von Plünderungen in der Stadt Rosario hat die argentinische Regierung am Montag abend im ganzen Land den Ausnahmezustand verhängt. Für 30 Tage wurden die verfassungsmäßigen Bürgerrechte suspendiert. Der Ausnahmezustand trat sofort in Kraft, muß aber noch vom Parlament bestätigt werden. Doch auch der bisherige Oppositionsführer Carlos Menem, der im Dezember die Präsidenschaft antreten wird, hat die Maßnahme gutgeheißen.
Bereits seit Dienstag letzter Woche war es in den Vorstädten der Industriezentren zu vereinzelten Überfällen auf Supermärkte gekommen, meist durch Gruppen von 20 bis 30 Männern, Frauen und Kindern, die Lebensmittel klauten. Bei Inflationsraten von über 20 Prozent pro Woche war in vielen Familien das am Anfang des Monats ausgezahlte Gehalt schon lange aufgebraucht. Der Mindestlohn lag im Mai bei umgerechnet 50 Mark.
Am Montag nahmen die Vorfälle von organisiertem Mundraub in der Indsutriestadt Rosario dramatisch zu. Bereits in der Nacht hatten unbewaffnete Gruppen etwa 30 Supermärkte gestürmt, bis zum Nachmittag wurden über 250 Läden geplündert. Auch wenn Gelegenheitsdiebe die Situation ausnutzten und teurere Waren mitnahmen, steuerten die meisten „Kunden“ die Lebensmittelregale an.
Die Polizei der Provinz Santa Fe, zu der die Millionenstadt Rosario gehört, setzte zum Schutz des Eigentums Knüppel, Tränengas und Schußwaffen ein. Sie traf damit Plünderer, zahlende Käufer und Passanten gleichermaßen. Das massive Vorgehen der Sicherheitskräfte forderte mindestens zwei Todesopfer und 41 Verletzte, darunter mehrere mit Schußwunden. Bis zum Dienstag abend meldete die Polizei über 500 Verhaftete in Rosario und landesweit über 1.100.
Der peronistische Gouverneur der Provinz Santa Fe beschuldigte linksextreme Gruppen, hinter der Plünderungswelle zu stehen, besonders die trotzkistische Partei „Movimiento al Socialismo“, deren Vorsitzender Luis Zamora bei den Wahlen am 14.Mai für die „Vereinigte Linke“ den Einzug ins Parlament geschafft hatte. Auch der neue Innenminister Argentiniens, Juan Carlos Pugliese, bis vor wenigen Tagen noch Wirtschaftsminister, befand, daß die Organisation der Ereignisse typisch sei für die radikale Linke. Er beschuldigte Zamora, zumindest die Stimmung angeheizt zu haben, indem er Verständnis für den Zorn der Massen gegen „die Politik des Hungers der Regierung Alfonsin“ geäußert habe.Am Sonntag hatte Präsident Alfonsin den Notstandsplan für eine „Kriegswirtschaft“ verkündet. Neue Steuern vor allem für den reichen Agrarsektor sollen dazu beitragen, den nahezu bankrotten Staatshaushalt zu sanieren. Durch Einführung eines offiziellen und einheitlichen Devisenkurses versucht die Regierung, zumindest den weiteren Verfall der argentinischen Währung aufzuhalten. Gegen die Hyperinflation und gegen den Verfall der Löhne scheint man jedoch noch kein Rezept gefunden zu haben.
Der Ausnahmezustand war von der Regierung Alfonsin schon einmal 1985 verhängt worden, nach einer Welle von Bombenattentaten durch Rechtsradikale. Damals blieb die Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten theoretisch, „erleichterte“ lediglich die Verhaftung einiger Attentäter. Diesmal ist die Lage angesichts der ökonomischen Situation ernster. Für gestern wurde das „Komitee für innere Sicherheit“ einberufen, ein im März geschaffenes Organ, in dem auch der Oberste Stabschef der Streitkräfte vertreten ist. Das Komitee erfüllt Beratungsfunktion für den Präsidenten bei „operativen Aufgaben“ der inneren Sicherheit.
Am Montag, dem Tag der Plünderungen und der Verkündung des Ausnahmezustandes, feierten die Streitkräfte den „Tag des Heeres“. In einer Ansprache rechtfertigte Heereschef Gassino zum wiederholten Male den „Krieg gegen die Subversion“ während der letzte Militärdiktatur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen