piwik no script img

Israels Siedler üben Selbstjustiz

Jüdische Siedler müssen sich wegen „Strafaktionen“ gegen Palästinenser vor Gericht verantworten / Paramilitärische Siedlereinheiten sorgen auf den Straßen der besetzten Gebiete für Recht und Ordnung / Polizei und Militär sehen den Gewalttätigkeiten tatenlos zu  ■  Aus Tel Aviv Amos Wollin

70 jüdische Siedler wurden am Dienstag wegen „Strafaktionen“ in den von Israel besetzten Gebieten festgenommen. Im Zusammenhang mit einer Schießerei im Dorf Kifl Harith, bei der eine 16jährige Palästinenserin erschossen worden war, wurden 20 Studenten einer Talmud-Schule verhaftet. Ihre Waffen wurden konfisziert. „Sie werden sich vor Gericht verantworten müssen“, sagte Verteidigungsminister Rabin. „Die Waffen, über die die Siedler verfügen, sollen ihnen dazu dienen, ihre Siedlungen zu schützen oder sich selbst auf den Straßen der besetzten Gebiete zu verteidigen, keinesfalls aber, um sie für 'Strafaktionen‘ zu benutzen“, so Rabin. Etwa 50 weitere Siedler wurden in der Nähe der Stadt Hebron wegen Gewalttaten festgenommen. Hebron war am Montag abend zur geschlossenen militärischen Zone bis auf weitere Anordnung erklärt worden.

22 Jahre nach dem „Sechstagekrieg“, in dem Israel die Golan -Höhen, den Gaza-Streifen und die Westbank erobert hatte, und 17 Monaten seit Beginn der Intifada in den besetzten Gebieten, zeigt sich immer deutlicher, daß der „glorreiche Präventivschlag“ von 1967 ein Pyrrhussieg war, der zu einer Serie von weiteren Kriegen führte und das Kernproblem des Konflikts, die Palästinenserfrage, ungelöst ließ. Die USA sind nicht länger bereit, die Grundlinien der israelischen Außenpolitik seit 1967 weiterhin abzusichern, und der Aufstand der Palästinenser in den besetzten Gebieten droht den Annektierungsbestrebungen der Israelis den Boden zu entziehen. Grund genug für die Siedler in den besetzten Gebieten, angesichts dieser „Gefahren“ in die Offensive zu gehen - gegen alle Friedensvorschläge oder „Zwischenlösungen“, die den Status quo aufs Spiel setzen könnten.

Mit ihren bewaffneten Angriffen auf palästinensische Dörfer provozieren die fanatischen, in den meisten Fällen religiös -fundamentalistischen Siedler, blutige Zusammenstöße mit Palästinensern - ein Versuch, die Forderung nach massenhafter Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung zu rechtfertigen. Regierungsparteien und Besatzungsbehörden reagieren auf die rassistische Offensive der rechtsextremen Siedler und ihrer zahlreichen Sympathisanten in Israel äußerst ambivalent. Auf den immer lauter werdenden Ruf der Siedler „Tot den Arabern“ stellte ein liberaler Abgeordneter anläßlich der Knesset-Debatte vom Dienstag die rhetorische Frage: „Haben wir uns in ein zweites Libanon verwandelt?“ Der Abgeordnete der Arbeiterpartei Abraham Burg sprach von „jüdischen Pogromen“ - nicht nur in den besetzten Gebieten, sondern auch in Israel selbst.

„Trotz der bereits einen Monat andauernden Zusammenstöße in Hebron unternimmt das Militär nichts gegen die bewaffneten Patrouillen der Siedler. Die Siedler in Kiriat Arba, einem Vorort von Hebron, erklären, daß sie mit ihren Aktionen lediglich das Vakuum ausfüllen, das die Armee hinterlasse. Ihre Patrouillen dienten dazu, die palästinensische Bevölkerung zu terrorisieren und sie daran zu hindern, Steine zu werfen“, hieß es am Dienstag in der israelischen Tageszeitung 'Yediot Achronot‘.

Die Spähtrupps der israelischen Siedler machen hemmungslos von ihren Schußwaffen Gebrauch, auch wenn Soldaten in der Nähe sind. Motorisierte Patrouillen der „Kach“ (Kahana -Faschisten) operieren auf den Straßen von Bethlehem und Hebron, ihre Waffen stets schußbereit. Auch in den nördlichen Regionen der besetzten Gebiete gehören solche Aktionen mittlerweile zum Alltag: Palästinenser werden angeschossen, ihre Häuser in Brand gesteckt. Die Polizei und das Militär sehen diesem Treiben tatenlos zu. „Wenn hier 'Koexistenz‘ mit dem Gewehrlauf realisiert wird, sollte sich Israel nicht wundern, wenn die Intifada eskaliert und gerade die Siedler Opfer des Aufstands werden“, kommentierte 'Yediot Achronot‘.

Die Siedler gehen davon aus, daß sie ein gottgegebenes Recht darauf haben, dort zu sein und zu tun, was immer sie für richtig halten. Es sei die unerfüllte Pflicht des Staates, die Siedler abzusichern und sie in jeder Hinsicht zu verteidigen. Recht und Ordnung kann es nur nach Maßgabe ihrer eigenen Konzeption geben. Der Jerusalemer Kriminologe Cohen stellte unlängst fest, die Siedler hätten „längst gelernt, die Ambivalenz der Regierungspolitik für sich auszunutzen“. Einerseits betone die Regierung ihre Gesetzestreue, andererseits unterstütze sie die Siedler aktiv wie passiv bei all ihren Aktionen. Die immer verschwommeneren Definitionen dessen, was als Selbstverteidigung gilt, die lange Geschichte der unterschiedlichen Rechtsauslegung für Juden und Palästinenser und schließlich die minimalen Strafen, die es für Vergehen von Siedlern gibt - wenn es überhaupt zu Gerichtsverhandlungen kommt -, ermöglichen den Siedlern, uneingeschränkt Waffen zu tragen, paramilitärische Einheiten zu bilden und ungestraft Gewalttätigkeiten zu verüben. Professor Cohen ist der Meinung, daß diese Kombination von Faktoren bereits heute eine explosive Situation erzeugt hat. Es genüge schon die Provokation eines Zwischenfalls, bei dem ein jüdisches Kind von Palästinensern verletzt oder gar getötet werde. Ein solcher Vorfall würde die angestaute Frustration der Siedler zur Explosion bringen und militärische Vergeltungsmaßnahmen gegen die palästinensische Bevölkerung herausfordern.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen