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Kapitalistisches Stiefkind übt sich in Solidarität

Während in der Hauptstadt der chinesischen Volksrepublik die Straßen vom Militär leergeschossen wurden, gingen in der britischen Kronkolonie Hongkong eine Million Chinesen aus Protest gegen die Massaker in Peking auf die Straße / Ungewöhnlicher Konsens in der Finanzmetropole  ■  Von Ch.Yamamoto und GBlume

Hongkong (taz) - Trauerfeiern sind meist Familienfeste. In schwerer Stunde geben sie manchmal denen, die sich ewig streiten, Anlaß zur Versöhnung. Am Sonntag trauerten die alte Mutter Peking und das treulose Stiefkind Hongkong gemeinsam, jeder auf seine Art.

In Peking sind die Straßen leergeschossen, hat sich die Trauer hinter Mauern zurückgezogen - gerade weil die Trauer dort verboten ist, macht Hongkong die Trauer offiziell und öffentlich. Hunderttausende ziehen in Schwarz gekleidet durch die in der Hitze glühenden Straßen der chinesischen Finanzmetropole. Kaum ein Bürger der englischen Kronkolonie, der am Sonntag nicht für das Mutterland auf den Beinen ist. Über eine Million Menschen, mehr als jeder fünfte Einwohner der Stadt, soll laut Radio- und TV-Berichten an den Aktionen auf der Straße teilgenommen haben. Über Nacht hatten die Fernsehanstalten in pausenlosen Sondersendungen aus Peking berichtet. Zeitungen sind in dritter und vierter Neuauflage am gleichen Tag erschienen. Am Morgen hat die wenige Wochen alte „Hongkonger Bürgervereinigung zur Unterstützung der demokratisch-patriotischen Bewegung“ den „schwärzesten Tag Chinas“ ausgerufen. Hongkong - das versteht sich in einer Stadt, in der nur zwei Prozent Westler wohnen, von selbst ist China. Nie war das so selbstverständlich wie an diesem Sonntag.

„Chinesen schlagen keine Chinesen!“ lautet die Forderung aus Hongkong. „Es ist selbstverständlich, daß wir nicht zuschauen, wenn unsere eigene Generation niedergemacht wird“, erklärt ein Student. Der Zeitungsverkäufer pflichtet ihm bei: „Im Moment unterstützt ganz Hongkong die Pekinger Studenten.“ Immerhin gibt eine junge Mutter zu: „Konkret können wir hier nicht viel unternehmen. Wir können der Regierung in Peking nur unsere Wut zeigen.“ Ihre Wut zeigen die Hongkonger mit Würde. Schwarze Fahnen schmücken Taxis, Busse und Straßenbahnen. Mit einem Hupkonzert begleiten die Taxifahrer die Demonstrationschöre. „Wir lassen die Trauerglocken läuten“, erklärt der Chauffeur.

Bereits vor zwei Wochen erlebte Hongkong einen ähnlich großen Menschenauflauf, gerade als die Pekinger Studentenbewegung ihren Höhepunkt erreichte. Selbst erfahrene Beobachter überraschte die neue, vormals nie dagewesene Demonstrationsbereitschaft der Hongkong-Chinesen. „Es handelt sich um eine völlig neue Entwicklung in Hongkong“, kommentiert der Herausgeber des kritischen Intellektuellenblattes 'The Nineties‘ Lee Yee. Yee gilt als einer der wenigen Anhänger der europäischen '68er-Bewegung in Hongkong. Heute ist er erstmals stolz auf seine Stadt: „Bereits eine Stunde nach unserer ersten Großdemonstration in Hongkong zeigten die Studenten in Peking das Ereignis mit einem großen Transparent an.“ Seit gestern sind nun die Transparente vom Tiananmen-Platz in Peking verschwunden. In Hongkong sollen deshalb, geht es nach dem Willen der neuen „Bürgerallianz“, die Aktionen erst recht weitergehen. Vor dem Sitz der offiziellen chinesischen Nachrichtenagentur in Hongkong haben einige Intellektuelle noch am Sonntag einen Hungerstreik begonnen, der den vom Tiananmen-Platz fortsetzen soll. Und der Studentenverband der Hongkonger Universitäten scheute sich nicht, gleich „alle Chinesen gemeinsam“ aufzurufen, auf die Straße zu gehen und „für die Wahl einer neuen Regierung“ zu demonstrieren.

Dieser neue Demokratie-Eifer der Hongkong-Chinesen, von dem sich allmählich auch die größten Skeptiker wie etwa Lee Yee anstecken lassen, hat in der Stadt im Nu alle politischen Gegensätze hinweggefegt. Plötzlich stehen Hongkongs bestverdienende Geschäftsmänner, die von Demokratie in der Kronkolonie bisher nie etwas wissen wollten, vor der Jugend stramm und fordern ein „Grundgesetz“, das der Stadt endlich freie Wahlen gewährt. „Die Hongkonger Bevölkerung hat die Ereignisse mit einem solchen Enthusiasmus aufgenommen, daß wir einfach nicht länger behaupten können, die Leute hier sind an Politik nicht interessiert oder politisch unreif“, registrierte die englische Gouverneursberaterin Dunn den derzeitigen Konsens in der Kolonie. Ob es bei diesem Konsens bleibt, ist abzuwarten. Mehr kann die Mutter Volksrepublik vom kapitalistischen Stiefkind vorerst nicht erwarten.

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