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Aids: Düsterer Blick aufs Jahr 2000

■ In Montreal begann die fünfte Internationale Welt-Aids-Konferenz mit Kassandra-Rufen / Sambias Präsident vergleicht die Krankheit mit der Atombombe / Direktor der Weltgesundheitsorganisation WHO prophezeit sechs Millionen Aids-Fälle zur Jahrtausendwende

Montreal (dpa/wps/taz) - Mit düsteren Prognosen und emotionalen Appellen begann am Sonntag in Montreal die fünfte Welt-Aids-Konferenz. Die Eröffnungsreden hielten Sambias Präsident Kenneth Kaunda und der Direktor des Aids -Programmes der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Jonathan Mann, die beide vor der dramatischen Ausbreitung der Seuche im nächsten Jahrzehnt warnten. In Montreal treffen sich 11.000 Wissenschaftler aus 87 Ländern. Fast 1.000 Vorträge stehen auf dem Programm, 3.546 Arbeiten werden als Exzerpte vorgestellt.

Sambias Präsident Kaunda verglich die Krankheit in seiner Eröffnungsrede mit den Wirkungen der Atombombe und forderte die Atommächte auf, die Milliarden für die Nach- und Vorrüstung in die Aids-Forschung umzuleiten. Kaunda sprach erneut von einer drohenden „Entvölkerung“ Afrikas. Der sambische Präsident war ganz bewußt als Eröffnungsredner ausgewählt worden. Einer seiner sechs Söhne war im Dezember 1986 an Aids gestorben. Nachdem dies zunächst ein Jahr lang geheimgehalten worden war, setzte Kaunda sich demonstrativ an die Spitze der Aufklärungsbewegung gegen die Seuche. Die Wahl Kaundas sollte zugleich einen Schwerpunkt der Konferenz deutlich machen: die Auswirkungen von Aids auf Leben, Gesellschaft und Ökonomie in den sogenannten Entwicklungsländern.

WHO-Direktor Jonathan Mann präsentierte eine Hochrechnung zur weiteren Dynamik der Verbreitung der Krankheit, die auf dem Zahlenmaterial und den Prognosen von 155 Regierungen beruht. Dies sei die aufwendigste Abschätzung zum Verlauf von Aids bis zum Jahr 2000, die bisher angestrengt wurde. Mann sagte, daß sich bis 1991 die Zahl der heute geschätzten Aids-Fälle von 500.000 auf 1,1 Millionen mehr als verdoppeln werde. Die Krankheit dehne sich auf immer neue Länder aus und bleibe dynamisch: Thailand, Indien oder Westafrika seien nur einige der Nationen und Regionen, in denen Wissenschaftler in letzter Zeit eine besorgniserregende Zunahme von HIV-Infektionen beobachtet hätten. Bis zum Jahr 2000 sagte der WHO-Direktor mehr als sechs Millionen Aids -Fälle weltweit voraus.

Mann warnte vor dem bröckelnden Kampf gegen die Seuche. Überall auf der Welt sehe er wachsende Selbstgefälligkeit und Fatalismus. Die Selbstgefälligkeit verringere den Einsatz aller Ressourcen gegen Aids, der Fatalismus begünstige „einfache“ und „extreme“ Lösungen in der Bekämpfung des Virus. Mann nannte auch die aktuellen Zahlen der WHO. Bis 1. Juni sind 157.191 Aids-Fälle gemeldet worden, davon 90.000 aus den USA, 25.000 aus Afrika, 22.000 aus Europa. Da viele Länder gar nicht oder nur verzögert die Erkrankungen melden und außerdem viele Aids-Fälle unerkannt bleiben, hat die WHO die Zahl der gemeldeten Fälle verdreifacht und spricht von tatsächlich 500.000 Erkrankungen weltweit.

Die Eröffnungssitzung wurde durch Protestaktionen mehr als eine Stunde verzögert. Mehrere hundert HIV-Infizierte und Kranke demonstrierten zum Auftakt der Konferenz gegen wachsende Diskriminierung und Ausgrenzung. In ihrer Zehn -Punkte-Erklärung verlangten sie ein internationales Abkommen zur Garantie medizinischer Hilfe, Arbeit und Bürgerrechte für Infizierte. Scharf angegriffen wurde auch der Mißbrauch von Kranken und Infizierten für die medizinische Forschung. Die Erklärung kritisiert hier vor allem die Vergabe von Plazebos an Kranke, die in Therapie -Studien als Vergleichsgruppe eingesetzt werden. Die Demonstration war vor den Veranstaltern gebilligt worden, die erstmals die Probleme der Betroffenen stärker integrieren wollen. Im Veranstaltungskalender dominieren allerdings erneut medizinisch-wissenschaftliche Vorträge. Die Konferenz dauert bis zum Wochenende.

-man Siehe Kommentar Seite 8

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