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Chinas Armee ist gespalten

■ Die 27. gegen die 38.Armee / Von der politischen Führung ist nichts zu sehen oder zu hören

Mao kannte mehrere Wahrheiten. Er wußte nicht nur, daß die Macht aus den Gewehrläufen kommt, sondern weissagte auch: „Eins teilt sich in zwei.“ Vierzehn Jahre nach seinem Tod hat die Prophezeiung seine „Volksbefreiungsarmee“ erreicht. Eine Unzahl von Quellen spricht davon, daß die rivalisierenden Armeefraktionen jeweils Verstärkung aus den Provinzen haben kommen lassen, erste kleinere Gefechte hat es am Militärflughafen und im Stadtzentrum Pekings gegeben. Der Eindruck eines westlichen Diplomaten: „Anscheinend hat die politische Führung abgedankt.“ Sehen läßt sie sich jedenfalls seit Tagen nicht, nur im Fernsehen läßt sie dementieren, was Honkonger Zeitungen gemeldet haben: Der greise krebskranke Deng ist gestern morgen um neun Uhr Ortszeit gestorben.

Die Situation in Peking hat sich dramatisch verändert. Die Studentenschaft, die es geschafft hatte, eine riesige Bewegung zu entfachen und Arbeiter und Stadtbevölkerung zu mobilisieren, ist vorerst von der politischen Bühne verschwunden. Die Hauptakteure sind nun die rivalisierenden Militärfraktionen, die die blutigen Spielregeln bestimmen. Das Massaker an der Bevölkerung in der Nacht vom 3. auf den 4.Juni durch das 27.Korps hat die Armee tief gespalten. Seit Dienstag morgen bekämpfen sich mehrere Verbände mit Waffengewalt gegenseitig. Die Regierung hat die Kontrolle verloren, und es bewahrheitet sich, was die chinesische Intelligenz schon immer wußte: In China liegt die wirkliche Macht nicht in den Händen der Verfassungsorgane wie dem Volkskongreß oder der Regierung, sondern in den Händen der Armee. Nur diejenige Parteiclique kann sich an der Macht halten, die sich auf den Rückhalt der Armeekommandeure stützen kann. Das 27.Korps aus Shanxi, das mit einem unbeschreiblich brutalen Massaker den Tiananmen räumte, hält jetzt den Platz und die strategisch wichtige Chang'an-Allee von Jianguomen bis Fuxingmen besetzt. Sie kontrolliert auch den Regierungssitz Zhongnanhai. Entlang des Korridors, den sie beherrscht, stehen dicht an dicht Panzer, an den Kreuzungen sind Maschinengewehre aufgepflanzt, hinter denen Soldaten mit dem Finger am Abzug auf die Straße zielen. Auf Gruppen von drei oder vier Personen wird sofort scharf geschossen. Gestern nacht und heute vormittag waren ununterbrochen Schüsse zu hören. Augenzeugen berichten, daß Soldaten völlig willkürlich auf Passanten oder Flüchtlinge, die versuchten, sich zum Bahnhof durchzuschlagen, das Feuer eröffneten. Das Töten hat nicht aufgehört. Andere Truppenteile sind aber nicht bereit, die blutige Unterdrückung der eigenen Bevölkerung länger mit anzusehen. Außer dem 27.Korps hat bisher keine andere Einheit auf die unbewaffneten Demonstranten geschossen. Viele der Panzer, die sauber aufgereiht in Reih und Glied brennend bei Muxudi stehen, wurden von den Soldaten selbst angezündet, die danach ihre Waffen wegwarfen. Soldaten des 24.Korps haben nach dem Massaker mit ihren Gewehren auf der Straße gegen die Mörder demonstriert. Eine Studentin berichtete, sie habe gesehen, wie am 3.Juni während des Blutbads ein junger Offizier die Pistole an die eigene Schläfe setzte und abdrückte. Soldaten, die neben den zerquetschten Leichen der von Panzerwagen überrollten Studenten standen, mußten sich erbrechen. Das 37. und vor allem das 38.Korps aus Baoding, schon seit Mitte April in Peking eingesetzt, sind heute gegen das 27.Korps in Stellung gegangen. An zwei Orten gab es zwischen den Verbänden Feuergefechte mit mehreren Toten. Maos Wort „Alle Macht kommt aus den Gewehrläufen“ beschreibt die Situation noch am genauesten. Studenten und die Stadtbevölkerung, die weiterhin den Generalstreik, Verkehrsstreik und Ladenstreik fortsetzen, warten ab, welche Militärfraktion sich durchsetzt. Im günstigsten Fall, so die sogenannte „Analysegruppe“ der Peking-Universität (Beida), wird das regierungsloyale 27.Korps aus der Stellung im Stadtzentrum vertrieben und als Machtfaktor ausgeschaltet. Gemäßigte Reformkräfte könnten dann die Kontrolle über die Mehrzahl der Armeekorps und damit über die Regierung gewinnen. Oder aber die Gefechte zwischen den Einheiten eskalieren zu einem regelrechten Krieg um die Macht. Angesichts der Kämpfe im Stadtzentrum, dem Zusammenbrechen der Rechtsordnung und der Gewalt der Staatsorgane muß sich die Armee nicht mehr um die Universitäten in den Außenbezirken kümmern. Zu einer Besetzung, wie sie angekündigt war, hatten die Truppen gar keine Zeit. Viele Studenten hatten sich an ihre Universitäten zurückgezogen. Doch der Großteil der Studenten hat die Universitäten bereits verlassen, die meisten Wohnheime stehen fast leer. Auf dem Campus der Beida, wo sonst Tausende auf Nachrichten warteten, diskutieren nur noch zahlreiche Grüppchen. Die Studenten hatten die Bevölkerung mobilisiert. Sie waren Avantgarde, aber jetzt geht die weitere Entwicklung über sie hinweg. War die Peking-Universität das Zentrum der Bewegung, wo alle Nachrichten zusammenliefen, herrscht nun hier Verwirrung über die Vorgänge draußen. Radio und Fernsehen wissen nichts mehr zu berichten, sie sind sprachlos geworden. Die spärlichen Meldungen wiederholen nur die alten Lügen wie „Das ganze Volk steht hinter der Regierung“ oder „Das Volk begrüßt den Kampf der Armee gegen die Konterrevolutionäre“. Die Leute sind allein auf Augenzeugenberichte und Gerüchte angewiesen. Auf dem Campus kommt es immer wieder zu erschütternden Szenen. Eine heulende Großmutter ist auf der Suche nach ihrem seit vier Tagen verschollenen Enkel. Sie macht die Studenten für den Tod des Jugendlichen verantwortlich. Die Beschwichtigungsversuche der umstehenden Studenten beantwortet sie mit Ohrfeigen, dann bricht sie zusammen.

Allen ist nach den Ereignissen nur eines klar: Die Führung der Partei, vielleicht die KP China überhaupt, ist mittelfristig erledigt. Die Partei hat die Grundlage ihrer Herrschaft selbst zerstört. Die Juniereignisse werden zum Wendepunkt in der Geschichte des kommunistischen China. „Nach dem großen Aufräumen kann nichts mehr so sein wie früher“, schließt ein 70jähriger Professor seine Rede an die Studenten. Alles schweigt. Nur noch die Trauermusik tönt über den Platz.

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