: Düstere Daten für die Sowjetwirtschaft
■ Ministerpräsident Ryschkow stellt vor dem Obersten Sowjet in einer Regierungserklärung die wirtschaftliche Bilanz der Perestroika dar / Einschränkung der Militärausgaben zur Verringerung des Hauhaltsdefizits
Moskau (dpa) - Eine kritische Bilanz der wirtschaftlichen Entwicklung der UdSSR in den ersten Jahren der Perestroika hat der sowjetische Ministerpräsident Ryschkow gezogen. Nach wie vor besorgniserregend nannte Ryschkow die schlechte Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. In diesem Jahr müßten 22 Milliarden Rubel (66 Milliarden Mark) für den Import von Konsumgütern und Lebensmitteln ausgegeben werden. Davon entfielen fünf Milliarden Rubel auf Getreide und Lebensmittel.
Ryschkow, der am Morgen vom Obersten Sowjet zum neuen Regierungschef ernannt worden war, gab am Nachmittag vor dem Kongreß der Volksdeputierten, der seine Ernennung noch bestätigen muß, erstmals seine Regierungserklärung ab. Allein die Schulden der UdSSR in harter Währung seien zweimal so hoch, wie die jährlichen Exporte das erwirtschaften könnten. Bei der Kredittilgung müsse die Sowjetunion mehr als die weltweit übliche Grenze von 25 Prozent der Währungseinnahmen aufbringen. Für die Zinsen reichten die Einnahmen aus dem Ölexport nicht mehr aus.
„Der Berg der Probleme, der sich jahrzehntelang aufgehäuft hatte, war größer, als wir zunächst angenommen hatten“, sagte Ryschkow. Der Regierungschef räumte auch Fehler bei der Einführung des neuen Wirtschaftssystems ein. Die Regierung entwickle zur Zeit ein Programm, um das Anwachsen des Haushaltsdefizits zu stoppen.
Große Einsparungen seien bei den Verteidigungsausgaben und bei den Aufwendungen im Weltraum möglich. Allein bei der Verteidigung innerhalb des laufenden Fünfjahresplans bis 1990 würden 30 Milliarden Rubel (90 Milliarden Mark) eingespart. Von den 77,3 Milliarden Rubeln des Verteidigungshaushaltes sollen 32,6 Milliarden Rubel auf Waffen und Technik, 15,3 Milliarden auf Forschung und Entwicklung, 20,2 Milliarden Rubel auf die Unterhaltung von Armee und Flotte, 4,6 Milliarden auf militärische Bauten, 2,3 Milliarden auf die Renten und 2,3 Milliarden auf sonstiges entfallen. Bis 1995 seien weitere Einsparungen geplant.
Die Ausgaben für die volkswirtschaftlichen und wissenschaftlichen Weltraumprogramme bezifferte Ryschkow mit 1,7 Milliarden Rubel, 3,9 Milliarden für die militärischen Programme und 1,3 Milliarden für den Raumgleiter Buran. Ryschkow trat nicht für eine Kürzung dieser Ausgaben ein.
Auch beim Außenhandel habe die Sowjetunion empfindliche Einbußen zu verzeichnen. So sei der sowjetische Export zwischen 1985 und 1988 um 7,6 Prozent und der Import um 6,3 Prozent zurückgegangen. Ryschkow führte das auf die gesunkenen Erdölpreise zurück. Dadurch sei im Außenhandel ein Loch von 25 Milliarden Rubel (75 Milliarden Mark) entstanden, das nicht durch den Export von Fertigprodukten habe kompensiert werden können.
Zuvor hatte der Oberste Sowjet gegen den Widerstand zahlreicher Abgeordneter den Parteichef von Kasachstan, Gennadi Kolbin, zum neuen Leiter des sogenannten Komitees für Volkskontrolle ernannt, das die Haushalts- und Ausgabenpolitik des Ministerrats überwacht. Gegen Kolbin, von Gorbatschow als einziger Kandidat vorgeschlagen, stimmten 34 der 509 anwesenden Parlamentarier, insgesamt 53 Abgeordnete enthielten sich. Gorbatschow hatte vor Beginn der Aussprache mitgeteilt, daß eine Gruppe von Parlamentariern Boris Jelzin für dieses Amt wünsche. Er habe Jelzin indes den Posten des Leiters der Baukommission angeboten und gehe davon aus, daß dieser annehme. Kurz vor der Abstimmung unterstützte Jelzin schließlich Kolbin.
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