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Das Parlament, das aus dem Koffer lebt

■ Verkehrsformen und Stammesverhalten der Eurokokken / Eine Woche im Straßburger Euro-Silo

Thomas Scheuer

Am Montag, früh morgens, ist im Straßburger Quartier de l'Orangerie, dem Europa-Viertel der elsässischen Provinz -Metropole, die Welt noch in Ordnung. Hausfrauen schleppen die Supermarkt-Beute übers Trottoir heimwärts, Mitglieder des Rudersportclubs ihre schlanken Holzboote durchs Ufergras der Ill. Noch gibt es freie Parkplätze im Viertel. Die Ruhe dieses schwülen Maimorgens trügt. Schon früh morgens haben Polizisten in der Umgebung des Palais de l'Europe die Signalisation umgestellt. Ein Einbahnstraßensystem soll die erwarteten Blechlawinen kanalisieren, Absperrgitter auf den Gehwegen wenigstens schmale Passagen für Fußgänger offenhalten.

Zuerst treffen gegen Mittag die Kisten ein: Vier, fünf Lastwagen speien Tausende von Blechkisten aus. Von geübten Händen werden sie durch das Labyrinth der Gänge flink auf Hunderte von Bürozellen im Europa-Palast verteilt. Schon kreisen die ersten Limousinen mit CD-Schildchen um das Eurodrom, Vorboten der Invasion. Bald darauf, mittlerweile sind auch die Flaggen gehißt und Uniformierte postiert, kommen sie aus Athen, Palermo und Dublin, aus Lissabon, München und Kopenhagen angeflogen. Heuschreckenschwärmen gleich brechen die Eurokokken über Straßburg herein. Für die Quartiersbewohner, so ein Spaziergänger, sei jetzt „die Hölle los“. Pünktlich um 17 Uhr eröffnet Parlamentspräsident Sir Henry Plumb die monatliche Sitzungswoche des Europäischen Parlaments.

Es ist die letzte Sitzungswoche, bevor EG-Europas Wahlvolk Mitte Juni zum dritten Mal zur Direktwahl des Europäischen Parlaments an die Urnen gerufen wird. Die Themen der prallvollen Tagesordnung wecken den Anschein, in den kommenden Tagen würden hier entscheidende Pflöcke in die politische Landschaft der EG geschlagen werden: Arbeitsschutz, radioaktive Grenzwerte, Freisetzung von genmanipulierten Organismen, Fernsehen ohne Grenzen, Lebensmittelbestrahlung, Flugsicherheit, Promillegrenze am Steuer - nur einige aus Dutzenden von Berichten, die da plenar beharkt werden wollen. Außerdem stehen zahlreiche wohlfeile Resolutionsentwürfe vom Raketenstreit bis zu den Menschenrechten im Iran zur Beratung an. Lord Plumb kennt seine Pappenheimer: Man möge doch nicht allzuviel Zeit mit Geschäftsordnungshickhack vertun. Schließlich lägen rund 1.200 Änderungsanträge zu den diversen Berichten vor. Doch am Montag abend kommen erst mal Riesling und Flammeküchle auf den Tisch. Man ist schließlich nicht umsonst nach Straßburg gereist.

Babylonisches Sprachgewirr

Am Dienstag morgen verbreitet umtriebiges Gewusel auf allen Fluren eine Atmosphäre enormer Wichtigkeit. Babylonisches Sprachgewirr durchrauscht die Wandelgänge. Ein Atmosphärenmix aus Dorfplatz und Airport erfüllt das Foyer vor dem Plenarsaal. „Diese ungeheuere Hektik“ ist der erste Eindruck, den die TeilnehmerInnen der zahlreichen Besuchergruppen wiedergeben, die sich durch das Nadelöhr des Sicherheitsdetektors und kurz danach auf die Besuchertribüne drängeln. Da liegt es nun vor ihnen, das Allerheiligste der Eurokokken - der Plenarsaal; eine Oase der Ruhe, sparsam ausgeleuchtet, kaum belebt von einigen wenigen Deputierten, deren steter Redefluß wie das ferne Plätschern eines Bächleins durch die Mikrophone in die Dolmetscherkabinen und von dort in die Kopfhörer von Parlamentariern und Schaulustigen sickert. Die höchste Instanz ist die Synchronisation. Von ihr abgenabelt, verstehen nur noch Sprachgenies die neunsprachige EG-Welt.

Die etwa 30, höchstens 40 anwesenden Abgeordneten basteln gerade an den sozialen Leitplanken für die Rennbahn zum großen Binnenmarkt. Als Berichterstatter prangert der deutsche Sozialdemokrat Kurt Vittinghoff das Ungleichgewicht zwischen den Vorteilen des Binnenmarktes für die Konzerne und den sozialen Rechten der Arbeitnehmer an. Dem Binnenmarkt fehle die soziale Dimension. Mit drei Berichten zum Arbeitsschutz will das Parlament, darin besteht interfraktionelle Einigkeit, hier Zeichen setzen.

Die hohe Zahl ungenutzter Sitzplätze weckt den Verdacht, es könne woanders noch wichtigere Thingplätze als den Plenarsaal geben. Tatsächlich verbringen die Euro -Abgeordneten ihre meiste Zeit in Ausschüssen, Fraktionsrunden, Symposien, Diskussionen mit Besuchergruppen und Intergroups, wie fraktionsübergreifende Arbeitsgruppen genannt werden. In einem der Restaurants hat sich eine besondere Spezies der Eurokokken versammelt, die „Känguruhs“. Die Angehörigen dieser Intergroup verstehen sich als Anwälte für das „Europa der Bürger“. Als oberstes Ziel haben sie sich die Abschaffung der Schlagbäume an Europas Grenzen auf den Beutel geschrieben. Um es nicht aus den Augen zu verlieren, ziert ständig ein Modell -Schlagbäumchen das Abgeordneten-Pult des Rudelführers Dieter Rogalla. Wenn er nicht gerade demonstrativ Schlagbäume aus Pappe zersägt, kreuzt er meist mit dem Radl kreuz und quer durch den Halbkontinent seiner Begierde. Die Namensgebung orientierte sich an einer früheren Intergroup, die sich in Anlehnung an ihren Tagungsort, eine Straßburger Lokalität der oberen Preisklasse, „Crocodile“ genannt hatte. Rogallas Crew zog „Känguruh“ vor, „weil das über die Grenzen springt“. „Leerer Beutel, aber große Sprünge“, feixen manche Kollegen über die Umtriebe der europhilen Gruppe, die bisweilen einen Hauch von Europatümelei verströmt. Jedenfalls sticht Ober-Känguruh Rogalla mit seinen bunt bedruckten Sweatshirts („Fit für Europa!“) angenehm aus der Masse der grauen Konfektionsanzüge hervor. Das Europaparlament ist der ödeste Laufsteg Europas.

Requisiten für ein

echtes Parlament

Am Mittwoch steht zunächst Glotze total auf dem Programm: Ein Richtlinienvorschlag über das grenzenlose Fernsehen im zukünftigen Binnenmarkt. Abgeordnete aller Fraktionen schwenken heftig die Fahne der europäischen Kultur, die vor der Flut US-amerikanischer Massenproduktion trocken zu halten sei. Er degradiere das Kulturgut Film zur bloßen Ware, wird am Gesetzentwurf des Rates kritisiert. Als ob das anders sein könnte: Für Kulturelles findet sich in den EG -Verträgen keine Zuständigkeit; und wie immer, wenn sie an sich unzuständig ist, schleicht sich die Brüsseler Eurokratie auf dem Umweg über die Wettbewerbsschiene an. Der Ansatz ist zwangsläufig kommerziell. Manchen Abgeordneten dagegen geht es um Höheres: Sie wollen eine Mindestquote von 60 Prozent europäischer Produktionen im TV-Gesetz festgeschrieben sehen. Der derzeit amtierende spanische Ratspräsident Solbes Mira stellt klar, daß der Rat sich zu keinen substanziellen Änderungen bequemen und es eben gar keine Fernseh-Richtlinie geben werde, wenn sich das Parlament querlegt. Damit ist der Fall eigentlich erledigt. Dennoch wird heftig weiter debattiert.

Oft wähne er sich, sinniert der britische Labour -Abgeordnete Llewellyn T.Smith an der Bar, in einer Irrenanstalt: Alle Patienten sind von der Wahnvorstellung befallen, sie seien potente Volksvertreter, mit richtiger Gesetzgebungskompetenz und so. Die Therapie ist einfach: Man läßt die armen Irren in dem Glauben, gibt ihnen sogar noch die nötigen Utensilien für ihr verrücktes Spiel Aktenordner, Mikrophone, Dokumente, alles, was ein Parlament so braucht.

Smiths Bild vom Placebo-Parlament entspricht dem landläufigen Klischee von der Straßburger Versammlung als einem zwar spesenintensiven aber letztlich unnützen, weil politisch machtlosen Debattierclub. Zwei Typen europäischer Parlamentarier beleben die Legende: Die Spesenritter und Memoirenschreiber, die lieber die Speisekarten der Straßburger Feinschmeckerlokale als politische Dokumente studieren. „Hast Du einen Opa, schick - ihn nach Europa“. Nach diesem Motto entsorgten die Parteien lange Zeit verdiente Parteifossilien in Straßburg. Neben ihnen wüten aktenbesessene Arbeitstiere, die ihre politische Impotenz durch immer höhere Berge von Resolutionen und Berichten kompensieren. Wie oft im Leben liegt im Klischee die halbe Wahrheit versteckt; aber eben nur die halbe.

Schattenboxen in Straßburg

Tatsache ist: Dem Europäischen Parlament geht die Power eines richtigen Parlaments ab. Von effektiver Kontrolle des übermächtigen Ministerrates oder der Kommission, dem geballten Spezialistentum und Herrschaftswissen der EG -Bürokratie, kann keine Rede sein. Auch Gesetze erlassen darf das EP nicht. Die gesetzgebende Gewalt in der Europäischen Gemeinschaft obliegt dem Ministerrat, der sich aus Vertretern der nationalen Regierungen zusammensetzt. Ein institutioneller Skandal sondergleichen: Mitglieder der nationalen Exekutiven mutieren auf dem Luftweg zwischen den heimischen Capitolen und der Brüsseler Eurokratie zu legislativen Organen. In intimer Runde verabschieden sie Richtlinien, wie Gesetze im EG-Deutsch heißen, die, sind sie erst mal in Kraft, jedes nationale Recht brechen. Unaufhaltsam verlagern sich mit jedem Schrittchen EG -europäischer Vereinigung Kompetenzen weg von den gewählten Parlamenten der Mitgliedsstaaten nach Brüssel. Dort aber werden sie eben nicht ihrem supranationalen Pendant, dem Europaparlament, sondern dem Rat zugeschlagen. Schleichend vollzieht sich so die Entparlamentarisierung EG-Europas (vergl. taz-Reportage „Die Metarmophosen Europas“ 1.7.88). Geraten die Beratungen in der Straßburger Arena da nicht zum bloßen Schattenboxen?

In jüngster Zeit zeigt das EP bisweilen Müskelchen. Die Kraftnahrung sogen die Abgeordneten aus der Quelle allen europarlamentarischen Lebenssaftes - aus Papier. In diesem Fall trägt es den Titel „Einheitliche Europäische Akte“. Als Reform- und Ergänzungswerk zu den über 30 Jahre alten römischen EG-Verträgen wurde sie im Dezember 1985 nach langem Gezerre auf einem Gipfeltreffen der EG -Regierungsoberhäupter in Luxemburg verabschiedet. Neben anderen Vertragserweiterungen, beispielsweise wurde die Umweltpolitik als Gemeinschaftsaufgabe definiert und erhielt damit quasi Verfassungsrang, fielen auch für das Europäische Parlament ein paar Paragraphenkrümel ab. Einige haben sich mittlerweile für die Brüsseler Eurokratie als harte Brocken herausgestellt.

Hatte der Rat das Parlament vorher lediglich unverbindlich anzuhören, so wurde er durch die EEA zur „Zusammenarbeit“ mit den Abgeordneten vergattert. Folgende Etappen muß eine Richtlinie nun durchlaufen:

In zwei Lesungen beackert das Parlament einen Richtlinienentwurf. Auf die erste Lesung reagiert der Rat mit einem gemeinsamen Standpunkt. Diesen gemeinsamen Standpunkt kann das Parlament als solchen ablehnen - dann ist allerdings die ganze Richtlinie vom Tisch - oder durch Änderungen und Ergänzungen modellieren. Das klingt gut, birgt jedoch Tücken und Tiefen: In beiden Fällen ist nämlich eine absolute Mehrheit erforderlich. Wollen die Eurokokken also ihre legislative Macht entfalten, müssen fraktionsübergreifende Kompromisse ausgetüftelt werden. Nach einem afrikanischen Sprichwort droht Gefahr, wenn zwei Elefanten schmusen. Elefanten-Knutschen ist in der Arena des Straßburger Wanderzirkus zur Dauernummer geraten: Denn die erforderliche absolute Mehrheit von 260 Stimmen wird meist durch das Gekungel der beiden größten Fraktionen sichergestellt, der sozialistischen und der christdemokratischen. Das fällt beiden um so leichter, als es im EP ja weder Regierungslager noch Opposition gibt, die sich aneinander reiben könnten. Der enormen Leibesfülle der beiden deutschen Rudelführer, des Sozialdemokraten Rudi Arndt und des Christdemokraten Egon Klepsch, verdankt die Fachwelt übrigens den Rückgriff auf die zitierte afrikanische Volksweisheit. Der Zwang zum interfraktionellen Minimal-Konsens ist ein Grund für den geringen Unterhaltungswert der Straßburger Debatten.

Noch beeindruckender schwellen die Muskeln der Eurokokken, wenn es ihnen gelingt, die Brüsseler Kommission für ihre Änderungswünsche zu gewinnen. Dann kann der bislang übermächtige Ministerrat die Änderungsvorschläge mit einfacher Mehrheit annehmen, aber nur noch einstimmig wieder ändern. Damit wird nicht nur die Position des Parlaments formal gestärkt, das im Konfliktfall unter den zwölf Mitgliegsregierungen nur einen einzigen Verbündeten finden muß, sondern auch diejenige der kleinen Länder im Rat, die oft - gerade in Belangen der Umweltpolitik - einen schweren Stand gegen den von den Großen gesetzten Mehrheitstrend haben. Dem Rat bleibt theoretisch dann nur noch die Flucht durch den Notausgang - das ganze Richtlinienprojekt fallen zu lassen; was bei dem Harmonisierungsdruck des im Sauseschritt heraneilenden Binnenmarkt-Stichdatums 1992/93 meist ausscheidet. Der Kommission ist das EP durch eine innige Haßliebe verbunden, je nachdem, ob sie sich als Verbündete oder Gegnerin erweist. Das Böse an sich verkörpert dagegen der Ministerrat. Dessen Uneinigkeit hebt den Kurs des Parlaments; ist er sich einig, hat es kaum eine Chance.

Emanzipation von Brüssel

Nach einer vom Sekretariat des Parlaments erstellten Bilanz nahm die Kommission seit Inkrafttreten der EEA 72 Prozent der Änderungen aus der ersten Lesung des Parlamentes auf, wovon der Rat dann mit 42 Prozent knapp die Hälfte übernahm. Von 91 Änderungswünschen in der entscheidenden zweiten Lesung übernahm die Kommission 48, der Rat nur noch 15. Einen klaren Sieg konnte das EP kürzlich im Kampf ums abgasarme Kleinauto feiern: Das war zuvor vom Ministerrat mehrmals ausgebremst worden. Doch schließlich setzte das EP die scharfen US-Standards durch, die nun ab 1993 alle neu zuzulassenden Kleinwagen erreichen müssen. Immer intensiver werden die flügge werdenden Eurokokken von der Industrie -Lobby umzirzt. Mal lädt der deutsche Bauernverband, mal der griechische Reederverband. Eine offizielle Lobby-Liste wie im Bundestag gibt es im EP nicht, dafür einen um so regeren Lobby-Graumarkt.

Offenbar hat der Rat erst im nachhinein bemerkt, daß er mit der EEA dem Papiertigerchen immerhin zu Milchzähnen verholfen hat. Als der Untersuchungsausschuß des EP zum Atomskandal in die Kulissen der Euratom schauen wollte, fanden es Rat und Kommission an der Zeit, den von neuem Selbstbewußtsein beflügelten Abgeordneten mal wieder ihre Grenzen aufzuzeigen: Dokumente wurden verweigert, geladene Manager und Beamte verweigerten die Aussage unter Verweis auf mangelnde Befugnisse des Gremiums.

Auch manche Abgeordnete scheinen ihrer neuen Rolle selbst noch nicht recht zu trauen: Auf einer Toilette hat ein zynischer Geist die Beschriftung der Abstimmungsapparate angebracht. „Plus - minus - Enthaltung“ heißt es neben dem Hebel der Wasserspülung. Bei jeder „Abstimmung“ rauscht es mächtig.

Die EEA-Pillen haben die legislative Impotenz des EP noch lange nicht geheilt. Das beschnittene Parlament selbst hat sie in einem Report unter dem Titel Das demokratische Defizit in der Europäischen Gemeinschaft aktenkundig gemacht. In der Debatte hatte der rechte Christdemokrat Stauffenberg, Sohn des Hitler-Attentäters, die Absurdität konstatiert: Ein Staat mit der institutionellen Ausstattung der EG hätte mangels demokratischer Masse keine Chance auf Aufnahme in die EG. Sein Luxemburger Fraktionskollege Estgen siedelte die EG gleich im „Vorstadium des Diktaturregimes“ an. Im Chor forderten die EG-Volksvertreter mehr Rechte. Die aber kann ihnen nur der Rat zusprechen. Und der wird sich hüten. Erst soll das Jahrhunderwerk Binnenmarkt, der grenzenlose Supermarkt der 320 Millionen KonsumentInnen, über die Bühne gebracht werden, sollen die Kapitalkräfte sich wie schon mal im quasi verfassungsfreien Raum ungehindert als gesellschaftsformende Avantgarde austoben dürfen; danach kann über Demokratie geredet werden.

Der wenig originelle Schrei nach mehr Rechten für das EP in seiner jetzigen Form ist zudem problematisch. Es ist mehr als fraglich, ob die einfache Übertragung nationaler Parlamentsmodelle auf EG-Level als parlamentarische Instanz für eine supranationale Gemeinschaft überhaupt taugt. Vor allem aber: Es fehlt ihm noch das Wichtigste.

Debatten unter Ausschluß

der Öffentlichkeit

„200 Jahre nach der Französischen Revolution muß Demokratie anders aussehen“, konstatiert der Abgeordnete Schmidt (Regensburg) und bringt es auf den Punkt: „Ohne eine existierende europäische Öffentlichkeit kann es keine europäische Demokratie geben, ganz gleich wie viele Rechte das EP hat.“ Schmidts sozialdemokratische Fraktionskollegin und Umweltexpertin Beate Weber pflichtet bei: Ein großes Manko der EG-Umweltpolitik sei das Fehlen öffentlichen Drucks auf EG-Ebene. Es ist paradox: Das EP tagt öffentlich, wird aber kaum zur Kenntnis genommen. Dem de facto gesetzgebenden Ministerrat mangelt es demgegenüber zwar nicht an veröffentlichter Meinung, aber schlicht an Öffentlichkeit. Er tagt geheim. Das muß man sich vorstellen: Der Bundestag würde Gesetze nur noch hinter verschlossenen Türen beraten und verabschieden. Den Mitgliedern des Rates erlaubt solche Geheimpolitik, jede Schuld von sich zu weisen. Das Muster ist bekannt: Herr Töpfer hätte ja gerne viel schärfere Umweltrichtlinien in Europa - aber die anderen. Beate Weber hat dieses Geheimprinzip bereits einmal ansatzweise durchbrochen, hat sich als Vorsitzende des EP -Umweltausschusses aus einer Ratssitzung der Umweltminister nicht hinauskomplimentieren lassen. Und Gerhard Schmid nennt als Kampfziel für die nächsten zehn Jahre: Die Sitzungen des Ministerrates müssen öffentlich werden! Erst wenn es eine EG -europäische Öffentlichkeit gibt, „dann können wir darüber reden, was der Laden hier kann und darf“. So lange aber fordert er von den Eurokokken „das Kunststück, trotz mangelnder Öffentlichkeit so viel Druck auf Kommission und Rat zu erzeugen, daß diese sich bewegen“.

Neben ein paar Machtbröselchen hat die EEA der Straßburger Runde aber vor allem eins beschert: Streß, Streß und noch mal Streß. Denn der Harmonisierungsdruck des Binnenmarktes hat zu einem Richtlinien- und Verordnungsboom geführt. Was da alles geregelt werden muß, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden! Da hatte das Parlament einmal über den „Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über vor dem Führersitz montierte Umsturz -Schutzvorrichtungen mit zwei Pfosten für Schmalspurzugmaschinen mit Luftbereifung“ zu befinden; ein anderes Mal ging es um die Mindeststärke der Bindfäden zur Befestigung der Glasaugen an Spielzeugpuppen. Schlimmer war die Papierflut nur, als vor Jahren das Enfant terrible des Hauses, der italienische Radikale Marco Panella, mit wahren Geschäftsordnungsorgien das Plenum „leiden ließ“, wie sich ein Dolmetscher erinnert, um bessere Arbeitsbedingungen für kleine und Kleinst-Fraktionen zu erpressen: Ganz locker reichte der Italiener da pro Bericht runde 5.000 Änderungsanträge ein.

Noch heute schieben die Boten täglich Tonnen von Berichten mit jeweils Hunderten von Änderungsanträgen, Empfehlungen des beratenden Ausschusses, Stellungnahmen mitberatender Ausschüsse usw. auf ihren Rollis über die Flure. Die hauseigenen Druck- und Sortiermaschinen rotieren die ganze Nacht; Stenographen und Übersetzer kommen kaum nach und oft nicht vor vier Uhr morgens aus dem Haus. Denn jedes einzelne Blättchen muß ja in alle neun Amtssprachen der EG übersetzt werden. Damit Endverbraucher durch den Dokumentendschungel finden, ist der Papierausstoß regenbogenmäßig nach Sprachen eingefärbt: z.B. gelb für Deutsch, grün für Portugiesisch.

Da mault ein Funktionär des Protokolls an der Bar die übereifrige Regenbogen-Abgeordnete Undine Bloch von Blottnitz an: „Daß sie gestern um 11 Uhr nachts vor leeren Reihen noch einmal minutenlang Bequerel-Tabellen (es ging um Grenzwerte für Lebensmittel) rezitierten, hätte ja auch nicht unbedingt sein müssen.“ „Es ist doch meine letzte Woche hier“, entschuldigt sich die Anti-Atom-Kämpferin artig und revanchiert sich bei den Stenographen, indem sie später unter dem Vorwand eines Geschäftsordnungsantrags im Plenum moniert, daß die Mitarbeiter des Protokoll-Dienstes zu lange vor ihren Bildschirmen zuzubringen hätten. Manche bringen es leicht auf zehn bis zwölf Stunden pro Tag, seit mindestens zwei Nachtsitzungen pro Sitzungswoche die Regel sind.

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