: Jahrmarkt der Beliebigkeit
■ Vielfältig und abgeflacht: Der 23.Evangelische Kirchentag in Berlin
Der Kirchentag in Berlin ist ein einziger Rundumschlag um sämtliche Themen, deren die Kirche habhaft werden konnte mit Ausnahme selbstverständlich allzu radikaler Problemstellungen. Ängstlich wird vermieden, moralische Appelle wie im Beispiel der Apartheid in Südafrika im eigenen Handeln umzusetzen oder gar zu thematisieren. Noch immer führt der Kirchentag Konten bei Banken, die mit dem Rassistenregime Geschäfte machen. Und noch immer wird mehr Folklore als Inhalt geboten.
„Wir alle stehen auf den Schultern von Karl Marx, die Erkenntnis haben alle Menschen - nur wissen sie nicht, daß sie sie haben.“ Kaum jemand der Vorbeihastenden hört dem alten Mann zu, der seit Mittwoch im Verbindungsgang zwischen Internationalem Congress-Centrum (ICC) und Messehallen hoch über der Avus steht. Beharrlich verteilt er seinen 'Weckruf an den Kirchentag‘, in dem er dessen TeilnehmerInnen zur Rückbesinnung auf urchristliche, sozialistische Werte aufruft. Der Rentner aus Braunschweig bleibt einsamer Rufer in der Wüste aus Stahlbeton, Glas und unübersehbaren Menschenmassen, die von einem der über 3.000 Programmangebote zum nächsten drängen.
Zwar sind auch bei diesem 23.Deutschen Evangelischen Kirchentag (DEKT) seit 1949 wieder sämtliche Erscheinungsformen der Menschheitskrise Thema der zahlreichen Vorträge und Diskussionen, Foren und Bibelarbeiten sowie der 700 Stände des „Marktes der Möglichkeiten“: Umweltzerstörung, Hochrüstung, Ausbeutung der Dritten Welt, Arbeitslosigkeit, Rassismus, Frauenunterdrückung... Doch beschränken sich die Diskussionen im wesentlichen auf diese Symptome und kreisen um die Hoffnung auf Veränderungen im Rahmen des bestehenden Systems. Sozialismus ist out.
Aktuelle Themen fehlen
Die wenigen zaghaften Aufrufe vor allem einiger DDR -Theologen, aus der Krise des real existierenden Kapitalismus und Sozialismus gemeinsam die konkrete Utopie eines demokratischen, ökologischen Sozialismus zu entwickeln, bleiben weitgehend ohne Echo. „Langweilig“, „nichts Neues“, „Wiederkäuen alter Erkenntnisse“, „kein zentrales Thema“ - so lauten die Kommentare vieler langjähriger TeilnehmerInnen und professioneller BeobachterInnen nach den ersten beiden Tagen der Berliner Großveranstaltung. Das umfangreiche Programmheft wirke wie „abgekupfert“ von früheren Kirchentagen, meint selbst ein Mitglied des DEKT-Präsidiums. Das stimmt zwar, und das völlige Fehlen oder die Randexistenz wichtiger Themen China, Aids, neuer Rechtsextremismus - führt zu dem Urteil auch wohlwollender Beobachter, daß der von Expräsident Huber in Hannover 1983 einst als „evangelische Zeitansage“ apostrophierte Kirchentag „inzwischen der Zeit hinterherhinkt“.
Auch ist der Berliner Kirchentag nicht - vom taz -Kommentator damals als hervorragendes Merkmal hervorgehoben - wie noch sein Frankfurter Vorgänger ein Ort für den Dialog zwischen Gruppen, der anderswo in der Gesellschaft (noch) nicht möglich ist. In Frankfurt diskutierten erstmals Angehörige des ermordeten von Braunmühl mit den TeilnehmerInnen. Und daß - ähnlich wie in Düsseldorf 1985 mit der Gentechnik - ein noch schlummerndes, wichtiges Thema „entdeckt“ wird, ist in Berlin nicht absehbar.
Dennoch trifft die Kritik an der Wiederholung von Themen nicht das eigentliche Problem. „Der Kirchentag darf sich nicht damit abfinden, daß wir in unserer Gesellschaft seit Jahren wichtige Probleme ungelöst vor uns her schieben“, wendet sich Kirchentagspräsident Helmut Simon zu Recht dagegen, „neuerungssüchtig kurzlebigen modischen Trends nachzuhasten“, und verteidigt, „daß manche Themen des Berliner Kirchentages schon mal dagewesen sind“. Es gehe darum, so der Ex-Bundesverfassungsrichter in seinem Statement zur Eröffnungspressekonferenz am Mittwoch, „das bereits früher oder anderwärts als richtig Erkannte zu bekräftigen, zu aktualisieren, fortzuentwickeln, zuzuschärfen, einzuüben und glaubwürdig und beharrlich zu vertreten“.
Genau dieses geschieht in Berlin jedoch nicht und markiert den Unterschied vor allem zu den vier letzten Kirchentagen seit Hamburg 1981. Diese hatten ihre Zuspitzung ganz wesentlich durch die von aktiven Basisgruppen organisierten Friedens- und Anti-ApartheidKampagnen erfahren. Daß eine auch nur annähernd starke Mobilisierung diesmal fehlt, trägt mit dazu bei, daß Simons Vision, aus dem „volkskirchlichen Forum“ Kirchentag könne „so etwas wie eine zielgerichtete protestantische Bürgerrechtsbewegung werden“, mit den Realitäten in Berlin wenig zu tun hat.
Buhrufe und Pfiffe
Schon die in Frankfurt 1987 am Beispiel von Kirchenkonten bei im Geschäft mit der Apartheid führenden Großbanken aufgebrochene Frage nach wirtschaftlicher Macht und im Zusammenhang damit nach dem Umgang des Kirchentages und der Kirchen im westdeutschen Kapitalismus mit ihrem eigenen Geld ist als Thema zu radikal für eines der großen Foren. Sie wird lediglich von einigen Markt-Gruppen und Predigern der Eröffnungsgottesdienste am Mittwoch abend behandelt. Weiterführende Zeichen werden nicht gesetzt. Keiner der Kirchentagsprominenten nutzt etwa seinen/ihren Auftritt und das nach wie vor große Medieninteresse zu einem Aufruf zum Shell-Boykott, wozu die südafrikanischen Kirchen und auch der Genfer Weltkirchenrat die bundesdeutschen Kirchen und Christen seit langem auffordern.
Statt dessen betont Präsidiumsmitglied Erhard Eppler das Problem der „tiefen Verflochtenheit aller“ in die Wirtschaft und damit in die Apartheid, aus der „keiner austeigen“ könne. Was bei denen, die sich seit Jahren um die genaue Recherche und öffentliche Anprangerung eben dieser Verflochtenheiten am Beispiel von Outspan-Früchten, Bankverbindungen oder Shell bemühen und konkrete Handlungsvorschläge für das Aussteigen machen, nur auf Buhrufe und Pfiffe stoßen konnte. Wobei auch die tiefe Enttäuschung über die Aufrechterhaltung von Geschäftsbeziehungen des DEKT zu Dresdner, Commerz- und Bayerischer Vereinsbank nach der Kündigung des Geschäftskontos bei der Deutschen Bank im März 1987 eine Rolle spielt.
Die Enttäuschung ist viel stärker verbreitet, als die derzeit relativ geringe öffentliche Debatte über dieses Thema vermuten läßt. Es ist die Enttäuschung vieler über das Zögern und die Uneindeutigkeiten, wo es um das konkrete Handeln geht, bei denen, die wie Eppler und andere Prominente ja selbst auf den Kirchentagen der 70er und 80er Jahre mit ihren Analysen zu Problembewußtsein und Gewissensschärfung der TeilnehmerInnen beigetragen haben. „Je größer der Kirchentag wird, desto ängstlicher verhält er sich“, urteilt ein intimer Kenner dieser Großveranstaltung des westdeutschen Protestantismus.
Ein Präsidiumsmitglied beschreibt die Stimmung unter seinen 23 Kollegen so: „Die haben mit der Kontenkündigung 1987 ihre gute Tat vollbracht und empfinden weitere Forderungen jetzt als Anmaßung. So, als ob sich die Notwendigkeit konkreten Handels etwa in bezug auf die Apartheid nicht nach der Situation in Südafrika, sondern an der Befindlichkeit im Präsidium zu orientieren hätte.“ Mit seiner Warnung vor „weiterem Druck auf das Präsidium“ und einer „Dramatisierung der Kontenfrage“, ohne die die Chance für die Aufgabe der noch bestehenden Konten größer sei, bestätigt Eppler diese Beschreibung.
Spätblüte der Kirchentagsbewegung
Von den führenden DEKT-VertreterInnen immer wieder betont werden der „Forum-Charakter“ des Kirchentages und seine „Streitkultur“ - unbestreitbar Qualitäten, mit denen der Kirchentag sich große Verdienste erworben hat, zumal zu politisch verkrusteten Zeiten, wo anderswo in der Gesellschaft noch nichts oder nichts mehr ging. Wo der „Forum-Charakter“ zum Wert an sich wird und als Begründung für die halbherzige Entscheidung bezüglich der IGFM dient, wo „Zuschärfungen“ nicht mehr stattfinden, da verliert der Kirchentag an Attraktivität. Worüber auch die erneute Teilnehmerrekordzahl seit dem Aufschwung nach dem Tief in Düsseldorf 1973 nicht hinwegtäuschen sollte. Berlin ist die „Spätblüte“ der Kirchentagsbewegung, meinte ein langjähriger Aktivist und ehemaliger Mitarbeiter der Fuldaer DEKT -Geschäftsstelle. Ob danach die Phase der Verwelkung folgt, wird davon abhängen, ob die Verantwortlichen ab Montag im alten Trott den schon für 1991 konzipierten Ruhrgebietskirchentag vorbereiten oder vielleicht einmal eine Pause einlegen und die Zeit für eine Neukonzeption nutzen.
Andreas Zumach
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