: „Schlimmer als die Kulturrevolution“
■ Nach den ersten Massenverhaftungen fürchten viele Pekinger um ihr Leben / Kontakt mit Ausländern ist verboten / Von Ausländern genutzte Hotelanlage nahezu ausgestorben
Berlin (taz) - „Keine Angst“, sagt der Abteilungsleiter am Telefon. „Es ist alles ganz ruhig auf der Straße. Du kannst wieder zur Arbeit kommen.“ Aber der Redakteur vom Fremdsprachenverlag schüttelt den Kopf: „Kannst du mir garantieren, daß mich in der Redaktion keiner abholt?“ Der Einheitsleiter schweigt. Die Kollegen wagen sich am Abend vor der Evakuierung ein letztes Mal in das Hotel der ausländischen Experten, um sich von ihren deutschen Kollegen zu verabschieden. Sie wissen: Der Kontakt zu Ausländern ist bereits verboten, die Hotelzimmer sind verwanzt. Aber darauf kann es jetzt nicht mehr ankommen. Jeder weiß, daß die vier Redakteure seit dem 15. Mai fast täglich auf dem Platz des Himmlischen Friedens waren. Und was sie von der Bewegung halten, kann jeder in der Sondernummer über die Demonstrationen und den Hungerstreik nachlesen, die in der Woche entstanden ist, als Li Peng den „patriotischen Studenten“ im Krankenhaus die Stirn gestreichelt hat.
„Das hier ist Faschismus“, sagt einer, der noch Parteimitglied und Kader ist. „Was jetzt passiert, ist schlimmer als die Kulturrevolution. Damals hatten wir keine Angst. Da haben vor allem die Organisierten gegeneinander gekämpft. Heute müssen alle Angst haben, daß sie hingerichtet werden.“ Die Nachbarin, die vor 14 Tagen auf einer Rikscha den Hungerstreikenden am Tiananmen-Platz einen Eimer Wasser gebracht hat, der Taxifahrer, der ein großes Transparent durch die Menge getragen hat, der Stadtbusfahrer, der die Studenten direkt zur Demo gebracht hat - alle haben sie Angst. „Aber sie können nicht ganz Peking erschießen“, lacht Xiao Sun (Name geändert). „Das ist unsere Chance. Natürlich kennen sie die Leute, die zur gleichen Zeit an den Telefonen hängen, um ihre 'Anzeigen‘ loszuwerden. Da ist der kleine Dünne mit der Hasenscharte, der schon lange Parteimitglied werden wollte, und da ist die alte Kang (Name geändert), die schon lange keinen Bonus mehr kassiert hat und in der Einheit ohnehin abseits steht.“ „Schreib‘ lieber nicht“, meint Xiao Sun beim Aufstehen. „Und wenn du anrufst, wundere dich nicht, wenn ich auflege.“
Als die Deutschen am nächsten Morgen die Koffer zum Flughafenbus schleppen, ist die Hotelstadt „Friendship -Hotel“ so gut wie ausgestorben. Das Brot im Bäckerladen stapelt sich, die Verkäuferinnen stehen mit rotgeweinten Augen hinter ihren Ladentheken. Die Zimmermädchen können sich über die reichhaltigen Hinterlassenschaften der Ausländer, die in Panik ihr Fluchtgepäck zusammengerafft haben, nicht freuen; sie bleiben allein mit den Indern, drei Chilenen und einer Handvoll westlicher Ausländer zurück - in einer riesigen Hotelanlage, die sich mit ihren vielen freien Wohnungen, den Geschäften, Kantinen und ihrer Nähe zu den wichtigen Unis hervorragend als Millitärstützpunkt eignet.
Als die Deutschen in der Lufthansa-Maschine sitzen und eine lächelnde Blondine auf der Flugkabinenleinwand die Sicherheitsvorkehrungen erklärt, flimmern in den chinesischen Wohnungen die ersten Bilder von Massenverhaftungen über die Bildschirme. Die Hände gefesselt und den Kopf nach unten gedrückt werden sie abgeführt, wie Todeskandidaten vor ihrer Hinrichtung. Man kann die Gesichter nicht erkennen, nur den Gang, das Hemd, die Hände. Es könnte ein Kollege sein.
Cornelia Eybisch (zurück aus Peking)
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