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DILEMMA DER FALSCHEN JAHRESZEIT

■ Toni Wirthmüller in der Galerie Neue Räume

„Bilder und Papierarbeiten aus dem Melancholia-Zyklus“ steht auf der Einladung zur Ausstellungseröffnung. Dabei denke ich an Landschaften im Nebel, an Heimweh, an Wermut und Abschiedsgedichte, an Werthers Leiden und Hamlets Schweigen. Mit solch trüben Gedanken die Lindenstraße entlang, während der Vollmond hoch am Kreuzberger Himmel steht, eine Szenerie wie aus Bertoluccis „La Luna“ - einleitende Worte in einer durchgängig schiefen Metaphorik.

Und der Blaufilter bleibt auf dem Auge, das den Blick verstellt. An allen Wänden der Galerie in unterschiedlichen Formaten, hinter Glas und auf Leinwand das kräftige Ultramarin, bekannt durch die Bilder Yves Kleins. Es ist die Farbe par tout, die allein durch ihre Intensität und Leuchtkraft fasziniert, deren Symbolgehalt Geheimnis, Romantik, Reinheit und Transzendenz umfaßt. Die Bilder von Toni Wirthmüller wirken, durch ihren mehrschichtigen Farbauftrag, durch ihre zum Teil sandige Oberfläche, stofflich, gleichzeitig halten sie auf Distanz. Formal stellt die Farbe den Rahmen her für die in die Leinwand eingearbeiteten Wellpapierstücke. Anders als bei der letzten Ausstellung des Künstlers variiert die Textur nicht, die collagierten Teile sind alle aus dem gleichen Material und proportional zum Bildträger immer gleich angeordnet. Diese hellen Quadrate und Rechtecke wirken wie in Serie produzierte Sichtfenster, in denen sich eine geheimnisvolle Ikonographie entdecken lassen könnte, wäre das Dargestellte häufig nicht so eindeutig: Formen, die an Knochen erinnern, Fratzen, Totenköpfe. Konzentration und Spannung entstehen da, wo die Zeichen verwaschener, abstrakter bleiben, die Pappe ganz in den blauen Bildgrund eingetaucht ist, die Collage als solche fast unsichtbar bleibt, der Blick sich im Farbraum verliert, freie Assoziationen sich entwickeln können, jenseits einer eindeutigen Symbolik.

Da träumt man so vor sich hin, weit entfernt von beklemmenden Zuständen, von schwerem Grübeln oder Traurigkeit. Die Bilder sind keine Topographie melancholischer Gemütsverfassung, wie also soll ich den Titel verstehen, oder liegt das Dilemma an der falschen Jahreszeit? Im Text zur Ausstellung heißt es: „Melancholie bedeutet ein Zurückhalten, ein Zurückziehen in sich selbst, vor sich selbst und vor den anderen. Sie bezeichnet, als das Saturnische Element im Leben, ein allgemeines Erstarren.“ Die Melancholie gehört zum Saturn als Erdzeichen, zu dessen Ehren im antiken Rom große Feste gefeiert wurden, so die weitere Ausführung. Also Freßorgien, und der an sie anschließende Körperzustand wurde verantwortlich gemacht für die Gemütsverfassung. Der Körper, der sich bewegungs- und antriebslos seiner Schwerkraft hingibt; gefolgt von der totalen Verstopfung, von der Negation aller Expressivität. Nicht ohne tieferen Sinn liegt in Dürers bekannter Melancholia-Darstellung die Klistier-Spritze am Boden. Ausdruck des „rien ne va plus“. Nicht ganz so plastisch aus dem Vegetativen gegriffen Kirchners Absinthtrinker, oder die gesichtslosen Menschen in den Bildern Edvard Munchs, jede Inanspruchnahme verweigernd, weltabgekehrt und erstarrt.

Bei Toni Wirthmüller fällt es mir schwer, die Verbindung herzustellen zwischen dem Thema und den Bildern. Einmal, weil das intensive, leuchtende Blau zu expressiv ist, fast schon zu dekorativ, zum anderen die Chiffren keine interpretatorische Hilfe bieten. In den wenigen Bildern ohne eindeutige Symbolik, in denen verwischte Pinselstriche und grobe Andrücke rätselhafte Fragmente aus einer anderen Zeit, aus einem anderen Raum seine könnten, entsteht ein Bereich selbständiger Entwicklung(en), der einen inhaltsschweren Titel unnötig macht.

Daniela Klook

Bis zum 25.6. in der Galerie Neue Räume, Lindenstraße 39, 1 -61. Öffnungszeiten Di-So 17-2 Uhr

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