: „Die Haftbedingungen im Vollzug sind unerträglich“
Renate Künast, justizpolitische Sprecherin der AL im Abgeordnentenhaus, äußert sich zu den notwendigen Reformen im Berliner Strafvollzug ■ I N T E R V I E W
taz: Was wird sich im Berliner Strafvollzug unter rot -grüner Regierung ändern?
Renate Künast: Man kann das auf drei Bereiche zuspitzen: Der erste Bereich ist der Gegensatz zwischen offenem und geschlossenem Vollzug. Unter Rot-Grün soll der offene Vollzug zur Regel werden. Das bedeutet nicht nur, daß Außensicherungen abgebaut werden, sondern vor allem auch, daß die Möglichkeiten von Beurlaubungen und Freigang, sprich von Arbeitsverhältnissen außerhalb der Anstalten, erweitert werden. Der zweite Bereich fällt unter das Stichwort humane Haftbedingungen. Ich halte die gegenwärtige Unterbringung sowohl im offenen als auch im geschlossenen Vollzug für unerträglich. Geändert werden müssen beispielsweise die Aufschlußzeiten. Abzuschaffen sind die Sicherheitstruppen, die lediglich die Denunziation fördern. Der dritte Bereich betrifft die Angebote von außen. Die AL kritisiert seit langer Zeit, daß die Sozialarbeiter und Psychologen in die Vollzugshierarchie eingebunden sind. Das bedeutet, daß sie den Gefangenen einerseits ein Angebot zu Gesprächen geben, die Ergebnisse und Inhalte der Gespräche jedoch andererseits in die Stellungnahmen über Vollzugslockerungen oder vorzeitige Entlassungen einfließen. Das ist eine höchst unselige Verbindung.
In dem Vollzugsgesetz von 1977 steht bereits, daß der offene Vollzug im Vordergrund stehen muß. Festgelegt ist dort auch, daß das Leben in den Anstalten weitgehend dem Leben draußen anzugleichen ist. So aber sieht es in den Berliner Haftanstalten nicht aus. Das haben erst die jüngsten Proteste in der Frauenhaftanstalt Plötzensee und jetzt in Tegel gezeigt. Was wird hier konkret geändert?
Der Dreh- und Angelpunkt für eine Veränderung im Berliner Vollzug sind die Ausführungsvorschriften (AV) zum Strafvollzugsgesetz. Für deren Erstellung ist die Senatsverwaltung für Justiz zuständig. Hier ist bereits eine Kommission tätig, die den Auftrag hat, die AVs zu durchforsten. Das ist deswegen wichtig, weil hier festgelegt ist, unter welchen Bedingungen zum Beispiel Beurlaubungen, wie überhaupt Vollzugslockerungen, gewährt werden. Unter der CDU-Regierung sind diese Vorschriften systematisch verschärft worden. Jetzt geht es darum, daß diese Vorschriften zum Urlaub bis hin zum offenen Vollzug massiv verändert werden. Das würde schon eine große Umwälzung im Berliner Vollzug mit sich bringen. Für wichtig halte ich auch die Stärkung der Insassenvertretungen, die unter der CDU-Regierung nach und nach kleiner gemacht wurden. Zurückgedreht werden muß insgesamt der überzogene Sicherheitswahn, der derzeit die Berliner Vollzugspraxis einschneidend mitbestimmt.
Die erst kürzlich eingeweihten Häuser V und VI in Tegel haben aufgrund ihrer architektonischn Vorgaben bereits den Kleingruppenvollzug präjudiziert.
Man kann ja schwerlich die Bauten wieder abreißen, obwohl es mir das liebsten wäre. Innerhalb der bestehenden Bauten, auch in diesen beiden Häusern, sind die Kontaktmöglichkeiten für die Gefangenen natürlich relativ gering. Aber trotzdem wollen wir jetzt möglichst schnell wieder zu einer Öffnung kommen, wie sie ja 1977 bereits bestand. Durch eine solche Öffnung kann auch langfristig der Beweis erbracht werden, daß die Sicherheit nicht der Knackpunkt ist, sondern die Öffnung innerhalb der Anstalten praktizierbar ist. In einem solchen Beweis liegt auch die Chance, daß Lockerungen später unter einer anderen Regierung nicht einfach wieder rückgängig zu machen sind.
Berlin liegt bei den Zweidrittel-Entlassungen statistisch an letzter Stelle. Wird sich das ändern?
Das liegt zum einen an der derzeitigen Besetzung der Strafvollstreckungskammern, in denen vorrangig konservative Richter tätig sind, die dem Schuld-und-Sühne-Prinzip offenbar nachhaltig verhaftet sind. Zum anderen liegt es daran, daß den Gerichten seitens des Vollzugs auch kaum Möglichkeiten zur Prüfung einer vorzeitigen Entlassung an die Hand gegeben wurden. Eine veränderte Vollzugspraxis, zum Beipiel mehr Urlaub, Freigang usw., würde natürlich auch häufiger Anhaltspunkte für Zweidrittel-Entlassungen geben.
Interview: Till Meyer
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