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Keine Volksfeinde mehr?

■ W.F.Haugs Versuch über Gorbatschow

Sabine Kebir

Die Stagnation dünstete no future. Jenseits ihres Nihilismus öffneten sich plötzlich wieder Handlungsräume. Der dialektische Determinismus lernt die Freiheit. Die Menschen 'hoffen wieder'“ (S. 375). W.F.Haug, dessen Forschungsthemen bislang eher „Warenästhetik“ und „bürgerliche Ideologie“ waren und der hinsichtlich der Problematik der sozialistischen Länder also eher ein Outsider ist, gibt zu, daß ihm ein Licht hinsichtlich des neuen Lichts im Osten erst 1987 aufgegangen war. Der von ihm weltweit untersuchte Plurale Marxismus (Argument-Verlag 1985/87/89) hatte unerwartet nun auch in der Sowjetunion Auftrieb bekommen.

Für Insider war Hoffnung auf Erneuerung in der Sowjetunion bereits mit den ersten Reden von Andropov aufgekeimt, in denen seinerzeit „schwere Fehler der Vergangenheit“ angedeutet und Experimente wirtschaftlicher Dezentralisierung angekündigt wurden. Daß der an der künstlichen Niere hängende Andropov es nicht geschafft hatte, seinen Reformwillen im „Apparat“ mehrheitsfähig zu machen und realiter voranzubringen, dafür eher noch einmal Angst vor jeglicher Erneuerung geschürt hatte, zeigte die Einsetzung seines erzkonservativen Nachfolgers Tschernenko. Was damals wie leichte Kursschwankungen erschien, war jedoch in Wirklichkeit nur die äußere Fassade von mächtigen internen Flügelkämpfen, wie sie übrigens in allen sozialistischen Ländern üblich sind, ohne daß davon auch nur fünf Prozent nach außen dringt. Eruptionsartig hatte sich das Phänomen auch schon einmal im tschechoslowakischen Frühling 1968 gezeigt. Embryonenhaft war es gar schon mit Chruschtschow sichtbar gewesen: Alexander Bek hatte schon 1956 von der Notwendigkeit einer „Perestroika“ gesprochen (S. 255).

Haug unternimmt es, das Perestroika-Projekt aus über hundert Reden und Schriften Gorbatschows, seiner Mitdenker und Gegner im In- und Ausland als gigantisches Umbau -Unternehmen in seine Komponenten zu zerlegen. Dabei gibt er freilich zu bedenken, daß eine solche Rekonstruktion auch ihre Risiken birgt, schließlich klafften „in der Sowjetunion seit sechzig Jahren traditionell Worte und Taten auseinander“. Und trotz seiner unverhohlenen Sympathie für Gorbatschow weiß er, daß dessen Erfolg keineswegs mit Sicherheit beschieden ist, ob also „der Umbau zur Welt zur Heimat“ gelingt, ob am Ende der „Abbau der sozialistisch -etatistischen Beschränkungen des Markts ... eine Konterrevolution oder gerade im Gegenteil ... die Wiederaufnahme der Revolution“ herauskommen wird.

Wieso die Umgestaltung des Sozialismus gerade heute und nicht schon früher vorangetrieben werden konnte, erklärt sich laut Haug „nach dem ABC des Marxismus, angewandt nun freilich unerwarteterweise auf den Sozialismus: Den Anstoß gab die Entwicklung der Produktivkräfte... In ihrer bisherigen Verfassung war die UdSSR unfähig, eine Produktivkraftentwicklung hervorzubringen, die das Land befähigen würde, im weltweit von den entwickelten Industriegesellschaften und sogar von vielen „Schwellenländern“ des Kapitalismus vollzogene Übergang zur „High-Tech-Gesellschaft“ - d.h. zur elektronisch -automatischen Produktionsweise ... den Anschluß zu halten“ (S. 26). Bislang ist die sowjetische Wirtschaft „durch die Existenz hochtechnologischer Inseln in einem Meer hoffnungslos veralteter, von Hand zu bedienender Maschinen“ gekennzeichnet. Ziel der Perestroika ist der Übergang vom extensiven zum intensiven Wachstum der Industrie. Das war zwar auch bereits Breschnews erklärtes Ziel gewesen, das sich jedoch vor „einer rätselhaft und unüberwindlichen Schwelle“ befunden habe und in Stagnation, schließlich sogar technologischen Verfall versunken sei. Das Neue bei Gorbatschow ist seine Erkenntnis, daß dem technologischen Umbau der politische Umbau vorangehen müsse. Eine neue Produktionsweise „ernötigt und ermöglicht andere Menschen“, die Kreativität anbieten und Verantwortung tragen können und wollen (S. 122). Der Kern der Perestroika könne darin gesehen werden, „daß die säkulare Besetzung des Sozialismus durch den Staat an ihre immanente Grenze gestoßen ist“. Es zeige sich jetzt, daß selbst marxistische Kritiker der Entstellung des Sozialismus den Staat einerseits nicht kritisch genug eingeschätzt, andererseits die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit unterschätzt hatten“. Die „befehlsadministrative“ Funktionsweise der sowjetischen Wirtschaft hatte in den dreißiger und vierziger Jahren nicht nur enorme Opfer, sondern auch enorme Aufbauleistungen zu verzeichnen - für einen erneuten Qualitätssprung der Gesellschaft erwies sie sich immer mehr als Hemmnis. Nun gelte es, „mindestens eine Anlagengeneration zu überspringen“. Paradoxerweise führte die Katastrophe von Tschernobyl - die durchaus als Ausdruck der gigantisch „kollektiven Verantwortungslosigkeit“ begriffen wurde - zur Beschleunigung der Perestroika. Lew Kopelew schrieb, „daß nach Tschernobyl den Worten auf einmal Taten folgen“. Und es sind politische Taten: Begleitet von zunehmender Glasnost in den Medien wird die administrative Reform bis hin zur Demokratisierung des Wahlmodus endlich eingeleitet. Ziel ist die vollständige Rehabilitierung der Sowjets als höchste Machtorgane - womit die „Rückkehr zu Lenin“ eingeleitet ist. Gorbatschow sagte auf der 19.Parteikonferenz, daß alle früheren Resolutionen über die Aufwertung der Sowjets auf dem Papier geblieben wären, da sie stets mit dem Zusatz „innerhalb ihrer Kompetenzbereiche“ versehen waren. Und diese Kompetenzbereiche „konnte man nicht mal unter dem Mikroskop sehen, so winzig waren sie“. Eine Renaissance der Sowjets muß das gesamte Kompetenz-Inkompetenz-System aufheben (S. 280).

So unzweifelhaft die These ist, daß das „befehlsadministrative System“ zur Schranke jeglicher Entwicklung geworden ist, so will mir die von Haug mitvertretene Gorbatschow-Ansicht eines direkten Zusammenhangs zwischen Demokratisierung und einem möglichen Sprung in die High-Tech-Gesellschaft nicht einleuchten. Hieße das nicht geradezu, die westliche Demokratie überbewerten? Und riecht das nicht immer noch nach „überholen ohne einzuholen“? In der Tat tragen die Sowjetgesellschaften auf vielen Gebieten noch sozialpsychologische Charakteristika von Entwicklungsländern, die es recht unwahrscheinlich machen, daß da in Kürze wirklich „eine Anlagengeneration übersprungen“ werden könnte. Gerade die High-Tech-Abenteuer der Entwicklungsländer haben gezeigt, daß eine intensive Modernisierung der Produktion auch unter Diktaturen möglich war (Südkorea), zumeist aber am passiven Widerstand der übergroßen Bevölkerungsmehrheit scheiterten, weil sie sich nicht organisch in deren traditionelle Lebenskonzepte einpassen ließ. Wirtschaftlicher und politischer Fortschritt einschließlich der von Gorbatschow stets auch beschworenen Ökologisierung der Produktion sind jedoch auch in kleineren Raten möglich. Der Sozialismus muß seine Überlegenheit keineswegs im Erreichen und Überholen des westlichen Innovationsrhythmus beweisen, sondern in einer besseren „Dialektik“ von technischen Fortschritten und sozialer Entwicklung. Die Perestroika hat bislang noch keine schlüssigen Lösungen für die im Zuge der Rentabilisierung und später der Intensivierung - bereits vorauszusehenden Arbeitslosigkeit beizukommen sei. Paradoxerweise stammt das einzige diesbezügliche sorgenvolle Zitat vom Perestroika -Bremser Ligatschow: “...Aber man muß dafür sorgen, daß dieser Produktivitätszuwachs Hand in Hand geht mit der Vollbeschäftigung, daß die Preisgestaltung mit dem Lebensstandard aller übereinstimmt“ (S. 229).

Realistischer als die Ideen vom Sprung in die High-Tech -Gesellschaft sind die durch die Perestroika bereits eingeleiteten Wirtschaftsreformen hinsichtlich der Errichtung eines sozialistischen Marktes. Endlich erinnert man sich, daß Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms die Beziehungen zwischen den Individuen in der sozialistischen Gesellschaft gerade in ihrer ersten Phase als Marktbeziehungen beschrieben und anstelle anarchistischer Gleichmacherei eine Vergütung der Arbeit nach Leistung gefordert hat. Die nun als vitales Erfordernis erkannte Leistungsbindung der Löhne setzt freilich eine Revolutionierung des gesamten sowjetischen Buchhaltungswesens voraus. Diese Leistungsbindung der Löhne in der staatlich bleibenden Industrie ist das notwendige Korrelat zum „Pachtsystem“ für private Kooperativen in der Landwirtschaft, den Dienstleistungen und kleineren Industriebetrieben, deren Produkte ja schließlich auch gekauft werden müssen.

Haugs umfangreiche Analyse streift kritisch die bislang äußerst mangelhafte Aufarbeitung der Frauenfrage in der Perestroika (S. 87). Das Nationalitätenproblem bleibt unterbelichtet. Ausführlich werden vor allem politisch -philosophische Aspekte behandelt; die Abrechnung mit Stalin und das Herausarbeiten der Sowjetgesellschaft an die Sozialismusvorstellung Antonio Gramscis, in der nicht der Staat, sondern die „Zivilgesellschaft“, d.h. eine konsensuale Herrschaftsform das Übergewicht haben sollte. „Die Volksfeinde-Verfolgung in Theorie, Geschichte, ja sogar Sprache ist vorbei“ (S. 43).

Vor Redaktionsschluß des Buches war klar, daß der Kampf um die sozialistische „Zivilgesellschaft“ unausweichlich ist. Daß er Risiken ungeahnten Ausmaßes mit sich bringen würde, wie es die Toten in Armenien, Georgien, Usbekistan und auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking nun zeigen, war noch nicht absehbar.

W.F.Haug: Gorbatschow. Versuch über den Zusammenhang seiner Gedanken.

Argument-Verlag 1989.

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