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Begeisterung wie bei Kennedy

■ Gorbatschows Bad in der Menge gerät zu einem triumphalen Empfang

Soviel echte Begeisterung ist einem Politiker schon lange nicht mehr zuteil geworden. Bonner Teilnehmern fällt als Vergleich allenfalls noch der Besuch Kennedys 1963 ein auch ein Hinweis darauf, daß die Hoffnungen der Bundesdeutschen sich nicht mehr nach Washington, sondern viel stärker nach Moskau orientieren. Dabei steht das materielle Ergebnis des Besuchs in keinem Verhältnis zur emotionalen Bewegung. Die unterzeichneten Abkommen haben eher zweitrangige Bedeutung, und die vielgerühmte „Gemeinsame Erklärung“ ist im wesentlichen eine Zusammenfassung positiver Willensbekundungen aus den letzten zwei Jahren. Anzeichen einer Klimaveränderung auch bei dem Besuch Raissa Gorbatschowa auf dem „sowjetischen Ehrenfriedhof in Stukenbrock. Erstmals nimmt die bundesdeutsche Politik die Gräber ermorderter sowjetischer Zwangsarbeiter offiziell zur Kenntnis.

Die Arme hochgereckt steht der ältere Mann in der Menge, die wohl einige Tausend Menschen umfaßt. Zu dem blauen Nadelstreifenanzug und der strengen Krawatte wirkt die Bewegung gänzlich unpassend. Auf den Fußspitzen stehend versucht er, eine der vielen sowjetischen Papierfähnchen zu erreichen, die von einem Gebäude am Rande des Bonner Marktplatz herunterflattern. Rund um den Platz am historischen Rathaus lehnen Menschen in den Fenster und warten, bis endlich der Hubschrauber sich zeigt, der über der anrollenden Wagenschlange schwebt. Exakt fliegt der Hubschrauber die Fahrtstrecke nach und ist deswegen das erste Zeichen, daß er endlich kommt.

Die Zuschauer stauen sich bis in die Seitenstraßen des Platzes, wo sie nur noch akustisch am Geschehen teilhaben können. Den Menschen in den dünnen Kleidern unter blauem Sommerhimmel, das ist zu spüren, ist es ernst; es ist nicht nur die Neugier, die sie hierher getrieben hat. Demonstranten gegen Gorbatschow gibt es nicht; nur im Hintergrund fordern zwei Transparente die deutsche Wiedervereinigung.

Als er dann, angeführt von siebzehn Motorradfahrern auf den Platz einbiegt, brandet der Beifall auf. Gorbatschow nimmt ihn entgegen, lächelnd. Gemessen steigt er die Freitreppe empor, bleibt am Treppenabsatz stehen, lang genug, daß sich die „Gorbi, Gorbi„-Rufe entwickeln können und dann noch einmal oben an der Brüstung. Es ist nicht das fanatische Lärmen des Fußballstadions, die bewußtlose Entladung, die so gewalttätig wie ziellos wirkt, die ihn hier empfängt. Es gibt kaum Geschrei, zumeist wird geklatscht mit einer ernsthaften Nachdrücklichkeit, als werde diese Sympathie nicht leichtfertig gegeben. Es teilen sich Gefühle mit, die echt sind und die in dieser Weise wohl in der Bundesrepublik seit Kennedys Besuch 1962 keinem ausländischen Staatsgast entgegengebracht worden.

Ehrliche Begeisterung auf dem Bonner Marktplatz

Zwei Elemente, die einander bedingen und aufeinander reagieren, machen diesen Besuch zu einem Ereignis. Es ist die Person Gorbatschows und es sind die Empfindungen, die hier zum Ausdruck kommen und die berufsmäßige Sowjetkenner, die ihre Gorbanomie schon vor mehreren Jahren hatten, sprachlos macht. Beide Elemente prägen diese Visite, auch wenn sie äußerlich abläuft wie jeder andere Staatsbesuch. Die abgenutzten Versatzstücke eines diplomatischen Zeremoniells sind da; auch jenes verlogene Beiwerk eingeplanter „menschlicher Begegnungen“: Der kleine Junge, der auf Befehl Blumen bringt und auf den Arm genommen wird; das Winken in die Menge gemeinsam mit Frau Gorbatschowa. Und doch kippt das Bild beständig aus dem Rahmen. Es sind die kurzen Momente, die Gorbatschow länger dort oben auf der Treppe steht und lächelnd winkt, als es das Protokoll vorgesehen hat; es ist seine Art, sich souverän über den Termindruck und über die Sicherheitsbedürfnisse hinwegzusetzen.

Der sowjetische Staatsschef muß ein Alptraum für die Sicherheitsoffiziere sein. Bereits am Montag abend, nach dem Abendessen mit Bundeskanzler Kohl in Bad Godesberg, war er beim Verlassen der „Redoute“ spontan wieder aus dem Wagen gestiegen, war zum Schrecken der Bodyguards direkt auf die Menge zugesteuert.

Viele waren es nicht, höchstens einige Hundert, die dort standen und ihn nun umringten. Diese Menschen hatten teilweise seit drei Stunden ausgeharrt. Sie seien extra aus Köln angereist, hatte ein Ehepaar vorher etwas enttäuscht berichtet, weil Gorbatschow bei seiner Ankunft in Sekundenbruchteilen im Wagen an ihnen vorbeigehuscht war. Nun kamen sie auf ihre Kosten. Wenn auch keiner den anderen verstand, war es die Geste, die zählte.

Auch der Bonner Marktplatz mit seinen Hunderten von ungesicherten Fenstern ist ein sicherheitstechnisches Fiasko, verraten die nervösen Blicke der Begleitbeamten. Gorbatschow stört es offenkundig nicht. Gerade in solchen Momenten wird der Unterschied deutlich zum Bush-Besuch vor vierzehn Tagen. Der US-Präsident bewegte sich fast ausschließlich mit dem Hubschrauber von Programmpunkt zu Programmpunkt; fast total abgeschirmt von der Bevölkerung. Anders als bei Gorbatschow, wo die Menschen bis fast direkt an das Tor der Bad Godesberger Redoute gelangen konnten, war dieser Bereich bei Bush weiträumig abgesperrt.

Die Spontanität, die bei Gorbatschow immer wieder aufbricht, läßt diesen Staatsbesuch im Zeitalter der medialen Begegnung, wo sich ein solches Treffen vor allem auf dem Bildschirm abzuspielen hat, so sympatisch anachronistisch werden.

Der Bonner Patzer: „Die Tschernobyl-Explosion“

Als Gorbatschow endlich das Rathaus betritt, ist der Zeitplan bereits um fünfzehn Minuten überschritten. „Eintragung ins Goldene Buch der Stadt“ heißt der unvermeidliche Programmpunkt und Oberbürgermeister Daniels, im Nebenberuf CDU-Hinterbänkler im Bundestag, gelingt es selbst hier, sich bei den Höflichkeitsfloskeln zu verheddern. Artig bedankt er sich - die Rede wird auf den Marktplatz übertragen - für Gorbatschows Kommen „trotz der schrecklichen Explosionskatastrophe von Tschernobyl“. Die Menge stöhnt auf, der Dolmetscher bügelt's aus.

Beifall brandet erneut auf, als der Oberste Sowjet wieder auf der Freitreppe des Rathauses auftaucht, herabsteigt zu seiner Staatskarosse, einem chromblitzenden russischen Ungetüm. Doch während ihm bereits der Wagenschlag aufgehalten wird, bricht der Staatschef erneut aus, läuft mit seiner Frau an seiner Seite über den Vorplatz bis an die Absperrung. Ein wildes Knäul von Sicherheitspolizisten und Fernsehteams hinterdrein. Während er die gesamte Linie der Absperrgitter abschreitet, ergreift Gorbatschow immer wieder die ausgestreckten Hände der Menschen. Vom Zusammenkommen der Völker hat er im Rathaus gesprochen und hat die Zuhörer draußen damit eingenommen, daß er von der guten Luft im „Bundesdorf“ spricht. Die Menschen haben es lachend quittiert.

Weit hinten klatschen sie wieder, auch ohne etwas zu sehen, und vorne an der Absperrung schlägt Gorbatschow Begeisterung entgegen. „Einen halben Meter vor mir war er, einen halben Meter“, sagt danach eine etwa dreißigjährige Angestellte, die wieder in ihr Büro zurückgeht, immer noch ganz aufgeregt. Sie sagt es ganz begeistert. Wie peinlich könnte dies klingen, andererorts - doch nichts davon schwingt mit an diesem Vormittag in Bonn. Das Bild der Begeisterung wird Gorbatschow mitnehmen und deutschen Politikern wird der Neid bleiben.

Gerd Nowakowski

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