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Die Mauer im Kopf

■ Am Montag abend kletterte der 25jährige Lourens G. in der Nähe des Obdachlosencamps am Mariannenplatz über die Mauer in den Osten

„Erst bin ick drei Tage durch Kreuzberg gelatscht, und dann stand ick plötzlich vor der Mauer - die gleiche, wie in meiner Birne.“ Lourens, der seit wenigen Tagen auf dem Gelände der Obdachlosensiedlung am Mariannenplatz wohnt, erklärt zum x-ten Mal, weshalb er am Montag abend „über die Mauer gehüppt“ ist. „Ick dachte, ick spring rüber, um die Mauer im Kopp zu zerhauen“, erklärt der 25jährige und schiebt sich zerstreut seine Mütze aus dem Gesicht.

Geklappt habe das allerdings nur im Ansatz. „Jetzt loof ick wenigstens nicht mehr mit 'nem verheulten Gesicht durch die Gegend!“ Liebeskummer, vor allem aber das fehlende Dach über dem Kopf hätten ihm einen „Fruststrudel“ eingebrockt. „Seit ein paar Wochen wohne ick nur noch im Auto“, erzählt Lourens und wirft einen abschätzigen Blick auf den Mittelklasse -Kadett, der zwischen den Wohnwagen der Obdachlosensiedlung parkt. Die mobile Schlafstatt hat ein westdeutsches Kennzeichen. Dorthin war Lourens mit seiner schwangeren Freundin gezogen, weil sie hier kein Dach über den Kopf gefunden hatten. Nur für kurze Zeit ging das gut. Ein Freund, der ihnen vorübergehend seine Wohnung zur Verfügung gestellt hatte, wollte zurück in seine vier Wände. Lourens zog mit Freundin wieder nach Berlin. Hier ist er nun seit über einem Jahr ohne Wohnung - ein Grund, weshalb seine Freundin samt Kind aus seinem Blickfeld entschwunden ist. „Seitdem is‘ bei mir allet abgestorben - eben 'ne Mauer im Kopp“, versucht Lourens „den Sprung in der Schüssel“, den viele seiner Bekannten bei ihm vermuten, zu relativieren.

„Bevor ick über die Mauer bin, hab‘ ick die Leute hier gefragt, ob sie nicht 'ne Leiter haben“, erzählt der DDR -Springer und räkelt sich in einem ausgeleierten Gartenstuhl zwischen den Wohnwagen seiner wohnungslosen Leidgenosen. „Die haben aber alle nur gegrient und gemeint, daß sie für solche Aktionen keine Leitern hätten. Daraufhin habe er dann einen Zaunpfosten als Hilfe für den Sprung über die Betonwand genommen. „Drüben hamse mich natürlich gleich einkassiert“, so Lourens.

Sehr unsanft sei er zu einem Wachturm geführt worden. „Ick durfte weder den Kopf verdrehen noch sonst irgend etwas machen.“ Danach sei er fünf Stunden lang verhört worden. Ein Mann vom Stasi habe durchaus Verständnis für seine Situation gezeigt und ihn mit „Kippen und Essen versorgt“. „Die wollten von mir wissen, ob am 17. Juni irgendwelche Anschläge auf die Mauer geplant sind“, erzählt Lourens. Am Dienstag mittag sei er dann wieder auf die Westseite abgeschoben worden. Seitdem wohnt er mit den anderen Rollheimern an der Thomaskirche, wo diese vor zwei Monaten ein Stück DDR-Gebiet diesseits der Mauer besetzt hatten. „Wenn mein Kopf wieder etwas klarer ist, schaffe ick es vielleicht von hier aus, eine Wohnung zu finden, wo ich mich anmelden kann.“

Denn: Ohne Meldeadresse gibt's kein Geld vom Sozialamt. „Ick kriege hier keine Sozialhilfe, weil ick immer noch in Westdeutschland gemeldet bin“, erklärt er die Ebbe in seinem Portemonnaie. Geld, um zwecks Abmeldung dort hinzufahren, hat er demnach auch nicht. Und so hofft er: „Soll doch bloß endlich mal jemand von der 'Bild‘ vorbeikommen. Denen erzähle ick, wat se wollen. Hauptsache, es wird gut bezahlt!“

Christine Berger

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