: Das Volk feiert den „gerechtfertigten Aufstand“
Ganz Ungarn fiebert dem „Tag der nationalen Aussöhnung“ entgegen / Am 31.Jahrestag seiner Hinrichtung soll Imre Nagy, Ministerpräsident zur Zeit des Aufstands von 1956, wiederbestattet werden / Rehabilitierung der „Konterrevolutionäre“ steht noch aus ■ Aus Budapest Roland Hofwiler
Eine ganze Nation fiebert dem morgigen Freitag entgegen, dem 31.Jahrestag der Hinrichtung des tragischen Helden des Volksaufstands vom Oktober 1956, Imre Nagy. Das ungarische Volk erwartet damit auch den Tag der Wiederbestattung Nagys. Ungarns Hauptstadt ist überschwemmt von Büchern, Plakaten und Zeitschriften, die genau jenen Mann feiern, der vom ehemaligen Generalsekretär Janos Kadar drei Jahrzehnte lang wie der Teufel selbst verdammt wurde. Die „Konterrevolutionäre“ von einst, die Reformkommunisten Imre Nagy, Pal Maleter und ihre Mitstreiter gelten heute als die Väter von Glasnost und Perestroika. Und jeder Politiker, der was auf sich hält, verwendet Nagy-Zitate, als habe er das Bekenntnis zu Freiheit und Mehrparteiensystem gleichsam mit der Muttermilch eingesogen. „Keiner unserer Parteibonzen möchte daran erinnert werden, daß sie alle durch die Kadar -Schule gegangen sind“, bemerkt Tibor Philip etwas gekränkt. „Du darfst sie ja nicht daran erinnern, daß sie noch vor einem Jahr den kurzen Freiheitskampf vom Oktober 1956, den militanten Aufschrei des Volkes gegen das damalige stalinistische Rakosi-Regime einmütig als Konterrevolution attackierten.“ Philip weiß, wovon er spricht. Noch vor einem Jahr, am 16.Juni, nahmen ihn Sicherheitsbeamte kurzerhand fest, „um eine Provokation zu vereiteln“, wie es im Polizeibericht später hieß. Gleichzeitig beschlagnahmten die Beamten einen langen, bearbeiteten Eichenstamm - Symbol einer staatsfeindlichen Aktion. Dieser Holzpfahl, der in heidnischer Vorzeit traditionell als Grabzeichen errichtet wurde, trug die Inschrift „1956 - pro Patria“. Ihn wollte Philip zusammen mit seinen Freunden von der Polit-Art-Gruppe „Inconnu“ („Die Unbekannten“) am nächsten Tag auf der Parzelle 301 des Budapester Zentralfriedhofes errichten.
Das unweit gelegene Zentralgefängnis, in dem zwischen dem 20.Dezember 1956 und dem 13.Dezember 1961 über 200 Todesurteile gegen die Aufständischen von 1956 verhängt wurden, wirft einen langen Schatten auf die Parzelle 301. Diese diente den neuen Machthabern um Janos Kadar als „Massenverscharrungsort“. Ohne die Angehörigen zu benachrichtigen, ohne ein einfaches Holzkreuz zu errichten, wurden Nagy und seine Freunde heimlich auf der Schutthalde des weitläufigen Rakoskeresztur-Friedhofes vergraben. Für Jahrzehnte war die Parzelle 301 nur durch wild wucherndes Weiden- und Heckenrosengestrüpp zu erreichen. Dissidenten und Oppositionelle machten sich zweimal im Jahr dorthin auf. Am 16.Juni, an dem Gerüchten nach Nagy erhängt worden sein soll, und am 23.Oktober, dem Tag, an dem die Volkserhebung bekanntlich seinen Anfang nahm, bis ihn sowjetische Panzer am 4.November blutig niederwalzten. Stets war es nur ein Häuflein Menschen, das der Toten gedachte - kein Wunder, daß kaum einer gerne zu der Grabstelle pilgerte, lauerte dort doch regelmäßig die Polizei, um die Besucher auseinanderzuprügeln.
Als die Witwe Pal Maleters, Judith Ghyczy, vor zwei Jahren um eine Wiederbestattung ihres Mannes ersuchte, antwortete man ihr schroff, aller Wahrscheinlichkeit nach liege ihr Mann wohl in der Parzelle 301, was Oppositionelle ohnehin seit Jahrzehnten behaupteten; wo allerdings, wisse man nicht genau. Eine glatte Lüge, führten doch die Kommunisten genauestens Buch, wen sie wann und wo verscharren ließen. Und obwohl in den letzten Wochen kein Tag vergeht, an dem nicht Zeitungen historische Dokumente ausgraben und im Fernsehen kurze Dokumentarfilme zu 1956 ausgestrahlt werden, hat man der Witwe Maleters noch immer keine Sterbeurkunde ausgehändigt.
Seit das Politbüromitglied Imre Pozsgay von einem „gerechtfertigten Volksaufstand“ sprach, laufen der Partei die Ereignisse davon. In der letzten Woche gesellten sich zu dem bereits unüberschaubaren Sammelsurium neuer Parteigründungen die „Bauernpartei“, die „Volkspartei“ und die von Pozsgay geführte „Bewegung für ein demokratisches Ungarn“ hinzu. Dagegen beuteln Richtungskämpfe die (noch) alleinherrschende KP. Eigentlich wollten die Genossen Nagy noch vor dem „Tag der nationalen Aussöhnung“ rehabilitieren. Das gelang aber nur teilweise, da Kadars Abwahl als Ehrenvorsitzender erst im letzten Monat vonstatten ging. Anfang Juli werde das Verfahren Nagy und der anderen Spitzengenossen neu aufgerollt, und dabei gelte es als sicher, daß sie vom Vorwurf des „Landesverrats“ und der „Anstiftung zur Konterrevolution“ posthum freigesprochen werden, schrieb das ZK-Organ 'Nepszabadsag‘ mit leichtem Bedauern, daß eben die bürokratische Maschinerie etwas langsam arbeite und sich dies erst in Zukunft ändern werde, wenn Ungarn ein Rechtsstaat nach westlichem Vorbild geworden sei.
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