: Stippvisite im Lieblingsland der Kreml-Begierden
Der Deutschen liebster Staatsgast auf Kurzbesuch in Baden-Württemberg / In Stuttgart drehte sich alles um Joint-Ventures, Exportraten, Schulungsprogramme und Kooperationen / In Stuttgart soll das erste sowjetische Kulturinstitut im Westen entstehen ■ Aus Stuttgart Joachim Zepelin
Der schwäbischen High-Tech-Hochburg Stuttgart statteten gestern mittag Michail und Raissa Gorbatschow einen mit wenig Spannung erwarteten, aber viel Aufsehen erregenden vierstündigen Besuch ab. Lothar Späth war wieder einmal cleverer als andere Ministerpräsidentenkollegen und konnte des Bundesbürgers derzeit liebsten Staatsgast prestigeträchtig für Baden-Württemberg buchen. Da mutmaßte die 'Washington Post‘ vor kurzem, der Staatsbesuch des Generalsekretärs gelte eher Späth als Kohl.
Deswegen gewährten die Bonner Protokollchefs Gorbatschow nicht mehr als eine Stippvisite bei den Schwaben, die er aber trotzig gegen das Protokoll ausdehnte. Im stolzen Stuttgarter Staatsministerium war das am häufigsten gebrauchte Wort der vergangenen Tage „Sicherheitsstufe eins“, was soviel wie „wahnsinnig wichtig“ heißen sollte, und „schließlich kommt ja nicht der französische Staatspräsident“, sagt ein Mitarbeiter der Pressestelle.
Heftiges Lob bekamen die Schwaben schon am Wochenende von der 'Prawda‘. Eine „besonders arbeitsliebende, eifrige und zielstrebige Bevölkerung“ sei dort zu finden, die auch etwas von ihren Erfahrungen weitergeben wolle. Stuttgart präsentiert sich mit Ausnahme von 42 roten Fahnen im Stadtgebiet so, wie es wirklich ist: mit Trachtengruppen am Flughafen, die wegen des Zugunglücks in der Sowjetunion nur ohne Musik zum Zuge kamen, mit einer Podiumsdiskussion, zu der 200 Wirtschaftsbosse geladen waren, mit Vorführungen technischer und wissenschaftlicher Höchstleistungen der Wirtschaft und der Universitäten, mit einer Familie, die Besuch von Raissa bekam, und Spätzle mit Sauce zum Mittagessen.
Daß Gorbatschow auf eigenen Wunsch an den Neckar reiste und Lothar Späth, der im Februar vergangenen Jahres in Moskau war, einen Gegenbesuch machte, dafür ist vor allem der expansionshungrige schwäbische Mittelstand verantwortlich. Die Tüftler und Bastler haben schon seit Jahren intensive Wirtschaftsbeziehungen gen Osten. Zu Schulungsprogrammen für Führungskräfte sind die Russen dort, Joint-Ventures, die Lieblingsobjekte kommunistischer Begierden, bestehen etwa mit dem Kranbauer Liebherr aus Biberach und der „Produktionsvereinigung Januaraufstand“ in Odessa oder zwischen dem Schuhproduzenten Salamander aus Kornwestheim und der Leningrader „Schuhfabrik Nr.2 Proletarischer Sieg“, die gemeinsam die sowjetischen BürgerInnen für einen Monatslohn auf Schuhwerk Marke „Lenwest“ stellen.
Die Unternehmen aus dem Südwesten steigerten ihre Ausfuhr im vergangenen Jahr um 55 Prozent auf 1,5 Milliarden Mark, während die Importe aus der Sowjetunion um fast 40 Prozent auf 300 Millionen Mark schrumpften. Die Sowjets kauften vor allem Maschinen, die Baden-Württemberger Öl, Gas und Mineralölerzeugnisse. Unverblümt gibt Lothar Späth auch die Linie der Zusammenarbeit vor: „Wenn Glasnost und Perestroika gelingen, kann der sowjetische Markt für unsere Unternehmen interessant werden.“ Die baden-württembergische Industrie und Handelskammer formuliert das so: „Der Markt ist schwierig zu bearbeiten, er eröffnet aber auch riesige Chancen.“
Doch Lothar Späth untermauert seine High-Tech-Politik immer mehr mit Kultur. Sein Kunst-Staatsrat, Generalintendant und designierter Kunstminister Wolfgang Gönnenwein ist federführend bei der Planung des bundesdeutschen Gegenwarts -Musikfestivals in der Sowjetunion dabei. Gönnenwein, der ausgiebig mit dem Gorbatschow-Vertrauten und Richard-Wagner -Fan Wadim Sagladin konferierte, bereitet nun noch ein großes Kultur-Austauschabkommen zwischen Baden-Württemberg und der Russischen Föderation vor. Der Clou aber ist das erste von den Sowjets im Westen betriebene Kulturinstitut, das - wie in Bonn unterschrieben und eher verschwiegen - in Stuttgart entstehen soll.
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