: Schlag ins Kontor
■ Die Eurowahlen bringen die innenpolitische Szene in Bewegung
Acht Prozent verloren und trotzdem eitel Freude. Es hätte ja viel schlimmer kommen können, tönt es aus den Reihen der Union. Angesichts der vorherigen düsteren Prognosen ist die Kanzlerdiskussion nun wenigstens vom Tisch. Lange Gesichter dagegen gab es bei der SPD, die sich im Aufwind wähnte und nun auf der Stelle tritt. Das gleiche bei den Grünen - 0,2 Prozent Gewinn ist nicht gerade ein Indiz für den unaufhaltsamen Aufstieg der „politikfähigen“ Partei. Und, allen Ausgrenzungsversuchen zum Trotz, die REP's sind mit ihren gut sieben Prozent von der Politszene der nächsten Jahre wohl nicht mehr wegzureden.
Nach den Ausreden des Wahlabends kommt jetzt die Stunde der Arithmetiker. Wie sie auch rechnen, das Ergebnis rechnet sich einfach nicht. Union und FDP haben ihre gemeinsame Mehrheit verloren. Ob die allein durch eine höhere Wahlbeteiligung bei den nächsten Bundestagswahlen wieder zustandekommt, wird wohl auch innerhalb des Koalitionslagers füglich bezweifelt. Auf der anderen Seite ist die Stagnation bei SPD und Grünen nicht gerade ein schlagender Beleg für das kommende rot-grüne Projekt im Bund. Zusammen knapp 46 Prozent ist noch weit von der Mehrheit entfernt. Bleibt es, wie es ist, droht uns ab 1991 nichts anderes als eine Große Koalition. Läßt man die letzten Wochen Revue passieren, muß jedem auffallen, daß dies ja nicht nur Zahlenspielerei ist. Als Kohl sich wegen der Stationierungszusage für neue Kurzstreckenraketen zierte, war es Vogel, der den nationalen Konsens beschwor. Als die gemeinsame Erklärung von Kohl und Gorbatschow auf dem Tisch lag, fiel Bahr nichts anderes dazu ein, als einzuräumen, daß er es auch nicht hätte besser machen können. Und um die Sache abzurunden, beglückwünschte Brandt die Bundesregierung ganz offiziell zu ihrer Ostpolitik.
Die Quittung für die Politik des großen Konsens‘ hat die Sozialdemokratie am Sonntag eingefahren. Für die zukünftige Parteienlandschaft stellen sich jetzt grundsätzliche Fragen. Versuchen die beiden großen Parteien die Mitte zu retten, werden sie wohl auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit anstreben. Das bringt zwar beiden Verluste, rettet aber eine stabile Mehrheit und erfordert wenig politische Phantasie. Die andere Variante wären formulierte und vermittelbare gesellschaftliche Alternativen, die den Wählern wirklich eine Wahl bieten. Gefordert ist dabei vor allem die Sozialdemokratie. Sie muß sich entscheiden, entweder im Konsens der Mitte den Status quo verwalten zu wollen oder mit den Grünen den gesellschaftlichen Widersprüchen zum Ausdruck zu verhelfen.
Jürgen Gottschlich
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