: Es hat nie ein Massaker gegeben
■ Chinesische Geschichtsschreibung im Zeitalter der elektronischen Medien
Die Rache der Herrschenden ist erbarmungslos. Zwar scheint sich der Alltag in Peking für alle sichtbar normalisiert zu haben, aber Angst, Schrecken und Terror bestimmen das Lebensgefühl großer Teile der chinesischen Bevölkerung. Die Verhaftungswelle rollt weiter und weiter.
Jetzt wird die jüngste Geschichte umgeschrieben. Dies ist nichts Neues in China. Bereits unter den alten Kaiserdynastien gab es immer Geschichtsschreiber, die nur damit beschäftigt waren, politische Ereignisse nachträglich so darzustellen, wie sie sein sollten, und nicht, wie sie wirklich waren. Geändert haben sich nur die Mittel, mit denen dies geschieht. Heute ist die mächtigste Propagandamaschine, die der Bevölkerung pausenlos eintrichtert, eine „konterrevolutionäre Bewegung“ sei niedergeschlagen woden, das chinesische Fernsehen CCTV.
Ein Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens hat es nicht gegeben. Statt dessen werden ermordete und verwundete Soldaten mit aufgeschlitzten Bäuchen gezeigt. Die Fernsehbilder sparen nicht an Grausamkeiten. CCTV präsentiert Verhaftungen, angezündete Autos, Verbrecher, die während der Demonstrationen vergewaltigten und plünderten. Es ruft ständig zur Denunziation auf, gibt Telefonnummern, unter denen man die Konterrevoltuionäre und Verbrecher melden kann, durch, präsentiert die ersten Todesurteile.
Die Nachrichtensendungen sind bis auf zwei Stunden verlängert worden. Die pausenlosen Wiederholungen der Regierungspropaganda lassen das Volk die traumatischen Ereignisse des Massakers am 3. Juni verdrängen. Die Menschen beginnen abzustumpfen. Die amtliche Lügenmaschinerie verhindert, daß sich die Menschen vergegenwärtigen oder erinnern, was wirklich geschah, was die Studenten wollten und wie groß die Unterstützung innerhalb aller Bevölkerungsschichten war. Prinzip Hoffnung
Noch vor vier Wochen präsentierte sich das chinesische Fernsehen von einer ganz anderen Seite. Über die 100 Millionen Bildschirme, die circa 600 Millionen Chinesen erreichen können, wurde die Führung der KP China für alle sichtbar von Teens und Twens kritisiert.
„Die meisten Leute haben zur Zeit keine Hoffnung mehr. Das größte Problem ist die Korruption unter den Beamten. Wenn die Partei Ansehen genießen will, muß die Führung mit ihren eigenen Söhnen beginnen. Was das Volk am meisten verabscheut, ist die Korruption.“ Mit diesen Worten versuchte ein junger Student, blaß und hager, bekleidet mit einem weißen T-Shirt, das Stirnband weist ihn als Hungerstreiker aus, Zhao Ziyang, zu dieser Zeit noch Parteiführer, zu erklären, wie er die KP China zu führen hat.
„Die Hoffnungslosigkeit der letzten Zeit hat vier Gruppen von Studenten hervorgebracht: Die Mahyong-Spieler, die Streber für das englische Sprachexamen, die, die ständig tanzen gehen, und die, die den ganzen Tag in der Stadt herumbummeln. Ich habe keine Hoffnung für unser Land. Wir wollen das Prestige der Partei wieder herstellen, damit das Volk wieder Vertrauen zu seiner Führung hat. Stimmen Sie mir zu?“ Die vierköpfige Parteidelegation nickte einstimmig mit dem Kopf. Dies waren die härtesten und direktesten Vorwürfe, die in den 30 Jahren, seit das chinesische Fernsehen existiert, über den Äther kamen. Drei Tage Pressefreiheit
Mitte Mai besuchte Gorbatschow die Volksrepublik und mit ihm kamen 2.700 ausländische Journalisten ins Land. Alle Hotels waren restlos ausgebucht. DieEurovision mietete eine komplette Etage im „Great-Wall„-Hotel, flog tonnenweise Equipment ein, darunter eine eigene Satellitenbodenstation, und ließ sich 15 internationale Telefonschaltungen verlegen (ganz Peking über zehn internationale Telefonschaltungen!). CCTV vermietete die Häfte seiner Studios an ausländische Fernsehanstalten. „Während des Gorbatschow-Besuchs hatten wir drei glorreiche Tage der Pressefeiheit“, frohlockten die Kollegen von CCTV. Die meisten Journalisten des chinesischen Fernsehens sympathisierten offen mit den Forderungen der Studenten nach mehr Pressefreiheit und Beendigung der Korruption. Eine Woche vor der Verhängung des Kriegsrechts (in der Nacht zum 20. Mai) wurden die Gespräche, die Li Peng mit den Studenten in der Großen Halle des Volkes führte, fünf Stunden lang im Fernsehen übertragen. Selbst auf den Titelseiten der regierungsamtlichen Zeitungen, die bis zum 4. Mai keine Zeile über die Studentenunruhen gedruckt hatten, berichteten über die Demonstrationen. Als beispiellos in ihrer detaillierten und freizügigen Berichterstattung wurde die 'Sience and Technology Daily‘ gerühmt.
Als Gorbatschow das Land verließ und die Hardliner um Deng Xiaoping und Li Peng den Machtkampf innerhalb der Partei gewannen, wurde das Kriegsrecht verhängt. Damit fand auch die glorreiche Pressefreiheit ihr buchstäblich abruptes Ende. Ungeschminkter Protest
Bamte des Informationsministeriums erschienen im „Great -Wall„-Hotel und zogen persönlich alle Stecker der Eurovisionsanschlüsse aus der Wand. Alle Satellitenschaltungen für Auslandsaübertragungen wurden gekappt. Die Journalisten von CCTV versuchten mit allen Mitteln ihren Protest gegen die Regierungspolitik auszudrücken. Die Verhängung des Kriegsrechts wurde nicht, wie für Nachrichten im chinesischen Fernsehen üblich, durch eineN SprecherIn vermittelt. Aus Protest zeigte man nur Schrifttafeln, die den Ausnahmezustand verkündeten, mit schwarzer Umrandung. In den folgenden Tagen erschienen die Ansagerinnen ungeschminkt in trister Kleidung auf dem Bildschirm, lasen die Regierungsmeldungen in einem unbeteiligten monotonen Tonfall vor. Sie schauten dabei das Publikum nicht mehr an, sondern hielten den Kopf zu Boden gesenkt.
Ein Massaker, bei dem mehrere Tausend Menschen getötet und Zehntausende verletzt wurden, hat es offiziell für das chinesische Fernsehen nicht gegeben. Dennoch erreichte ein Telex von CCTV Peking 30 Stunden nach diesem Ereignis die Koordinationszentrale des Fernsehnachrichtenaustauschsystems Asiavision in Kuala Lumpur, an dem 13 asiatische Fernsehanstalten beteiligt sind.
„Liebe Kollegen, das tragischste Massaker seit dem Zweiten Weltkrieg ereignete sich am 3. Juni. Die faschistischen Truppen eröffneten das Feuer auf unbewaffnete friedliche Zivilisten. Wir schätzen, daß 2.000 Menschen getötet und mehr als 10.000 verwundet wurden, darunter Frauen, Kinder und alte Leute. Das staatliche Fernsehen und Radio kann nur berichten, was die Diktatoren erlauben. Es gibt überhaupt keine Sicherheit für die Bevölkerung, das Blutvergießen geht weiter. Bitte laßt die ganze Welt wissen, was hier am 3. Juni 1989 geschah. Unter diesen Umständen werden wir euch keine Beiträge mehr senden, weil wir nichts, was der Wahrheit entspricht, anbieten können. Entschuldigt uns, wir melden uns wieder, wenn wir in der Lage dazu sind.„
Das Risiko für die Journalisten, die dieses Telex an ihre asiatischen Kollegen sendeten, ist lebensbedrohlich. Kurz nach dem Massaker hatte ein Fernsehansager die Nerven verloren und während der Sendung den Nachrichten hinzugefügt, daß bereits über 1.000 Menschen ermordet wurden. Er wurde direkt aus der Sendung geholt und ist heute nicht mehr am Leben. Die Fernsehansager haben sich dem Druck beugen müssen und verlesen heute ihre Texte wieder mit aufrechtem Blick und betonten Sätzen. Neben den Aufrufen zur Denunziation, den Fotos und Beschreibungen von Studenten und Arbeiterführern, werden politische Konferenzen gezeigt, auf denen die Lehren Deng Xiaopings studiert werden.
Der selbe Deng, der während der Kulturrevolution wegen seiner Politik der offenen Tür und seinen Reformbestrebungen in Ungnade fiel, hat alle Freiheitsbestrebungen brutal im Keime erstickt. Zum ersten Mal seit der Kulturrevolution wird wieder vom Klassenkampf geredet. Massenmedien als Werkzeug
für den Klassenkampf
Bisher hat jede Parteiführung versucht, die Massenmedien für ihre Ziele zu manipulieren. Sie wurde und wird die Struktur und Funktion des chinesischen Rundfunks durch die Leitlinien der Parteipolitik bestimmt. Alle Mitarbeiter des Fernsehens sind Beamte oder Parteimitglieder.
Für Mao Zedong waren die Massenmedien ein wichtiges Werkzeug für den Klassenkampf. Sie sollten der kollektiven Propaganda, der Agitation, der Kontrolle und Volkserziehung dienen. Zu Maos Zeiten eignete sich dafür der Drahtfunk am besten. Die über 100 Millionen Lautsprecher, die über Drahtverbindungen an leistungsstarke Funkempfänger angeschlossen wurden, erreichten damals genauso viele Menschen wie heute das Fernsehen. Die Lautsprecher hingen in Bäumen, an Straßenlaternen, auf allen öffentlichen Plätzen, in Schulen, Fabriken und auf Reisfeldern. Damit wurde das Volk tagein, tagaus mit Revolutionsliedern und öffentlicher Erziehung beschallt. Sogenannte „Barfußkorrespondenten“ wurden in den Massenmediden eingesetzt. Bauern und Arbeiter sollten direkt aus dem Volk berichten und nicht professionelle Journalisten oder Intellektuelle, die für Mao „ein stinkendes Übel“ waren. Fernsehen war für Mao genauso ein unnötiges Übel, in dem im revolutionären China kein Platz war. Von 1966 bis 1969 stellte das Fernsehen fast vollständig seinen Betrieb ein, begann aber in den folgenden Jahren wieder zu senden. 1970 bestanden 18 von 26 Minuten der abendlichen Hauptnachrichten aus Schrifttafeln, die Maos Leitgedanken dem Volk präsentierten. Dies wurde musikalisch mit Stücken aus Der Osten ist rot untermalt. Der Rest des Programms bestand aus Revolutionsliedern und acht Revolutionsopern, die Maos Frau Chiang Ching persönlich empfohlen hatte. Das Propagandainstrument
wird Unterhaltungsmedium
Nach dem Sturz der Viererbande vollzog das Fernsehen ein drastische Wende. Nach dem Tod Tschou Enlais konnte der während der Kulturrevolution in Ungnade gefallene Deng Xiaoping wieder bis in die Spitze der Macht vordringen. Für ihn war das Fernsehen kein unnötiges Übel, sondern ein Symbol des Fortschritts, der Öffnung und des Eintritts in das Zeitalter der Moderne. Sicherlich hat er auch früh die Macht dieses Mediums erkannt. Getreu seinem Motto „Egal ob die Katze schwarz ist oder weiß ist, wenn sie Mäuse fängt ist sie eine gute Katze“ sorgte sein pragmatischer Kurs nicht nur für eine rasche Verbreitung des Fernsehens, sondern auch für die Ausstrahlung ausländischer Sendungen und dies mit hohen Werbeanteilen. Bereits mit dem 1983 mit der amerikanischen Fernsehanstalt CBS abgeschlossenen Vertrag zeigte CCTV neben einigen japanischen Werbesendungen auch amerikanische Werbespots. Raumschiff Enterprise, Inspektor Colombo, Micky Mouse und Tatort hielten Einzug in die chinesischen Wohnzimmer. In einem Interview erklärte der Nachrichtendirektor noch Anfang Mai, daß die Hauptaufgabe des chinesischen Fernsehens nun die Unterhaltung und Entspannung des Volkes sei. Natürlich ließe man Erziehung und Bildung nicht ganz außer Acht, aber der Schwerpunkt sei jetzt der Unterhaltungsbereich, der sich bereits auf 75 Prozent der Sendezeit ausgedehnt hatte. Erstaunlicherweise finanziert sich CCTV zum größten Teil aus Werbung und nicht über staatliche Gelder.
Durch diese Entwicklung hatte sich das Fernsehen zu einem beliebten Medium entwickelt, das seit fünf Jahren den Drahtfunk vollständig abgelöst hatte. Die alten Lautsprecher waren zwar noch überall zu finden, wurden aber nicht mehr in Betrieb genommen. In Peking konnte der Drahtfunk sogar für Werbezwecke gemietet werden. Zurück zur Drahtfunk-Propaganda
Jetzt propagiert die Regierung unter Deng wieder den Klassenkampf in den Medien. Und das nicht nur im Fernsehen. Seit Verhängung des Kriegsrechtes kam auch der Drahtfunk wieder zum Einsatz. Per Lautsprecher wurden die Studenten auf dem Tiananmen-Platz gemaßregelt, auch Propagandasendungen tönen wieder täglich durch die Straßen. Dengs Reformpolitik ist es zu verdanken, daß China jetzt ein 500 Millionen starkes Fernsehpublikum hat, das täglich erfährt, daß die Studenten, denen Li Peng noch vor ein paar Wochen die Hände schüttelte oder über den Kopf strich, in Wirklichkeit Gewalttäter waren, die eine „konterrevolutionäre Rebellion“ angezettelt hatten. Die Machthaber in Peking haben die wichtige Rolle des Fernsehens für die Herrschaftsausübung erkannt. Die Propagandamaschine funktioniert perfekt. Die staatliche Presseagentur meldet: Es hat nie ein Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens gegeben.
Marina Schmidt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen