: „Erst jetzt weiß ich, daß ich mißbraucht wurde“
■ Jahrelange Ängste und Depressionen brachten Beate bis zum Selbstmordversuch / Therapie deckte Ursache auf / Von Birgitt Rambalski
Beate F. fährt sich nervös durchs Haar: „Ich muß damit an die Öffentlichkeit,“ sagt sie. Jahrelang war sie bisher vergebens in Therapien. Gruppengespräche, Analyse, Körpertraining. Kaum einen Versuch hatte die heute 35Jährige ausgelassen, um im breiten Therapieangebot ihrem Lebensrätsel ein Stück näher zu kommen. „Vor einem Jahr war ich so weit: Da stand ich schon neben den Eisenbahnschienen.“ Die Abschiedsbriefe waren bereits geschrieben.
Vor wenigen Tagen wurde Beate F. dann klar, was sie jahrzehntelang verfolgte, was ihr Leben, ihre Gefühle bestimmt hatte: „Mein Vater hat mich mißbraucht.“ Immer wieder taucht das Bild vor Beate auf, das jahrelang verdrängt und vergessen war: Sie, vier Jahre alt, beinahe noch Kleinkind, auf dem Bett, schlafend. Hinter ihr: der Vater, dicht an sie gedrängt, „holt sich einen runter“ Beate bebt vor Wut. Jetzt, 31 Jahre später, ist die Situation für sie noch immer präsent und vor allem auch: unfaßbar.
Was damals übrig blieb, das war die Erinnerung an das Erwachen, an die Situation im Nachbarzimmer wenige Minuten später. Davor lag bislang ein Bruch in Beates Gedächtnis. Die Mutter war außer Haus, zum Einkaufen. Als sie zurückkommt, hört sie die Tochter von ferne schon schreien „wie am Spieß.“ Im Zimmer trifft sie: Den Vater, wütend, weil die Tochter kurz zuvor das Wohnzimmerfenster zertrümmert hat. Und sie trifft die Vierjährige, heulend vor Wut, weil der Vater sie zur Strafe verprügelt hatte.
Die Situation vom zerbrochenen Fenster und den Tränen hat Beate zeit ihres Lebens als Traum verfolgt. Erst jetzt wird ihr klar, daß es ganz andere Schuldgefühle sind, die sie permanent verfolgen. Eine Therapiestunde hat das zentrale Erlebnis ins Bewußtsein geholt. Beate wird daran weiterarbeiten. Gespräche mit der Mutter will sie führen. Gegen sie hatte das Mädchen immer seine ganze Aggression gerichtet. Der Vater dagegen fand in ihrem Leben quasi nicht statt: Er war fast immer unterwegs, meistens im Ausland auf Montage. Wenn er mal zu Hause war, dann litt die ganze Familie unter seiner Tyrannei. Die Mutter ließ die Ehe schließlich scheiden
Von ihrem „Erlebnis“ hat die kleine Beate niemandem etwas erzählt. Auch nicht dem jüngeren Bruder, gegen den die Heranwachsende sich beinahe penetrant als die ältere, vor allem aber: (physisch) stärkere Schwester durchsetzen wollte.
Beate hat sich bis heute „in allen Lebenslagen“ ihrer Umwelt als „stark“ präsentiert: Die Schule managte sie mit besonderem Ehrgeiz, ihr Durchsetzungsvermögen beeindruckte MitschülerInnen, Beate wurde Schulsprecherin. Tief vergrabene Ängste, seit dem Abitur ständig wiederkehrende Depressionen, blieben Umwelt und Familie stets verborgen.
Bis heute schließt sich Beate ein, wenn sie unter die Dusche geht. Nacht für Nacht schreckt sie bei den geringsten Geräuschen aus dem Schlaf. Doppelte Schlösser hat sie an der Wohnungstür anbringen lassen: „Jetzt weiß ich
erst, was ich meinem Vater alles zu verdanken habe.“ Entschlossen wirft sie den Kopf in den Nacken. „Die Zeit der Heulkrämpfe ist vorbei.“
Voll Zuversicht will sich Beate jetzt ihrem zweiten Studienabschluß widmen. Um ihre Erfah
rungen anderen betroffenen Frauen nutzbar zu machen, will sich Beate künftig „politisch“ engagieren: Ähnlich wie die Frauen von „Schattenriss“, der Bremer „Arbeitsgruppe gegen sexuellen Mißbrauch an Mädchen.“
Beate hielt ihr Schicksal für
einzigartig. Als sie nach den ersten, sehr schmerzhaften Tagen der Erkenntnis mit ihrer besten Freundin über die Kindheitserlebnisse sprach, stellte sich heraus: auch sie hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Im Cafe, in der Uni, in Straßenbahn und selbst im
weiteren Familienkreis: überall trifft Beate F. plötzlich auf Leidensgenossinnen. „Man spricht ja von rund 300.000 mißhandelten Mädchen pro Jahr - ich denke mittlerweile, daß jede zweite oder dritte Frau betroffen ist,“ sagt Beate.
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