Der Judenmord in Lettland

■ Über 200.000 Juden aus Westeuropa wurden nach Lettland deportiert

Anita Kugler

Glasnost und Perestroika werden in den baltischen Ländern besonders ernst genommen. Das hat auch Folgen für die Geschichtsschreibung. Unabhängige Historiker, die mehr als nur das Parteibuch am Herzen tragen, drängen in die Archive, fordern Rechenschaft über die Hintergründe des Hitler-Stalin -Paktes, wollen Aufklärung über die Massendeportationen während der Sowjetisierung, untersuchen die Folgen der Zwangskollektivierung Ende der vierziger Jahre. Kein Denkmal für Juden

Auch die litauischen, lettischen und estnischen Juden verschaffen sich seit kurzem Gehör. In Kaunas, Riga und Tallin entstanden vor wenigen Monaten „Jüdische Kulturvereine“, die jüdisches Traditionsgut pflegen, Jiddischkurse anbieten, Theaterabende und Ausstellungen organisieren. Sie kümmern sich auch um ein besonders unaufgearbeitetes Kapital der jüngsten Vergangenheit, um die Geschichte der zwischen 1941 und 1944 ermordeten Juden im Baltikum. Die Beschäftigung damit war jahrzehntelang nur im Verborgenen möglich, denn offiziell gab es in den sowjetischen Staaten keine Juden mit einer eigenen Tradition und mit einem eigenen Schicksal. Es gab nur religiöse Eiferer, Antikommunisten und Zionisten, die von Stalin bekämpft und von seinen Nachfolgern diskriminiert wurden. Der latente Antisemitismus trat in der sowjetischen Darstellung des Völkermords an den Juden besonders unverhüllt zutage. Wenn ein sowjetischer Historiker über die Ausrottung der Juden in Osteuropa sprach, nannte er die Opfer nicht Juden, sondern sowjetische Bürger. Sowjetische Historiker brachten noch in den siebziger Jahren das Kunststück fertig, über das Ghetto in Riga und das nahegelegene Konzentrationslager Salaspils zu schreiben, ohne zu erwähnen, daß dort Juden, und zwar fast ausschließlich Juden, eingepfercht waren. An der Stelle des ehemaligen Lagers existiert seit vielen Jahren eine Gedenkstätte, an die Juden wird nicht erinnert. Totgeschwiegen werden die jüdischen Opfer der Faschisten auch auf dem Gedenkstein im Wald von Rumbula. Hier, wie in Bikernieki und Dreilini, alles Vororte von Riga, wurden auf unvorstellbar grausame Weise Zehntausende von Männern, Frauen und Kindern einfach abgeknallt. Auf dem vom Staat gesetzten Gedenkstein lautet die Inschrift in Russisch und Lettisch: „1941-1944 wurden hier im Wald von Rumbula 50.000 sowjetische Bürger, politische Häftlinge, Kriegsgefangene und andere Opfer des Faschismus grausam ermordet und erschossen.“ Kein Wort von den jüdischen Opfern des Naziterrors.

Das soll jetzt anders werden. Die Mitglieder des Jüdischen Kulturvereins sammeln Geld für die Errichtung eines Mahnmals auf dem heute freistehenden Platz der ehemaligen Großen Synagoge in der Gogolstraße, auf dem Platz, an dem die Ermordung der lettischen Juden ihren Anfang nahm. Ende Juni 1941 - die deutsche Wehrmacht, das mörderische Einsatzkommando A, die SS-Polizeischergen hatten gerade das Land besetzt - wurden Hunderte von Rigaern und in die Stadt geflüchtete Juden in die Synagoge getrieben und diese vor aller Augen angezündet. Keiner entkam.

Auch in der ehemaligen Moskauer Vorstadt erinnert nichts daran, daß hier im September 1941 das „Rigaer Ghetto“ für 30.000 lettische Juden eingerichtet wurde, und nachdem diese fast alle in den umliegenden Wäldern erschossen waren, als Sammelplatz diente für die Deportationszüge aus Lodz, Minsk, Berlin, Hamburg, Düsseldorf, Köln, Kassel, Frankfurt, Holland und Österreich. Über 200.000 Juden aus Westeuropa wurden nach Lettland deportiert, Lettland erhielt von den Nationalsozialisten das „Privileg, alle europäischen Juden zu vernichten“. Dieser Satz ist dokumentatorisch belegt. Nur wenige tausend westeuropäische Juden überlebten die Selektionen an den Bahnrampen, die Strafaktionen und die Arbeitslager, in Salaspils, im Jungfernhof, im Kaiserwald, in Libau und anderswo. Von den lettischen Juden überlebte fast keiner die ersten Monate der deutschen Besatzung.

Als die aus dem Reich deportierten Juden in Lettland ankamen, waren die lettischen Juden schon fast alle tot, mindestens 80.000. Nur wenige hundert Juden gab es noch in Riga, dem alten Zentrum jüdischen Lebens in Lettland, als die Rote Armee im Sommer 1944 das Land befreite. Viele von ihnen bezahlten das Überleben mit der Zwangsverschickung nach Sibirien. Die Befreier vermuteten in den ausgemergelten Gestalten Nazi-Kollaborateure und Spione und „bestraften“ sie zum zweitenmal.

Der Jüdische Kulturverein will auf dem Gebiet des ehemaligen Rigaer Ghettos ein Museum für die lettischen und deportierten Juden errichten und dem lettischen Arbeiter Jan Litek, der 53 Menschen vor dem sicheren Tod rettete, auf dem jüdischen Friedhof ein Denkmal setzen. All das kostet viel Recherchearbeit und viel Geld und muß aus eigenen Mitteln aufgebracht werden.

Die Aktivitäten des Jüdischen Kulturvereins machen in den lettischen Zeitungen Schlagzeilen. Es bleibt abzuwarten, ob sie auch einen Finger auf eine der schwärenden Wunden der lettischen Geschichte legen, nämlich auf die lettische Kollaboration mit den Nationalsozialisten. Der 1978/79 vor dem Hamburger Landgericht verhandelte Schwurgerichtsprozeß gegen Viktor Arajs, Führer eines rein lettischen Einsatzkommandos, das im Sommer und Herbst 1941 nachweislich 13.000, aber vermutlich noch viel mehr Juden erschossen hat, wurde in Lettland weitgehend totgeschwiegen. Glasnost in Lettland kann sich nicht darin erschöpfen, stalinistische und nationalsozialistische Greuel aufzuarbeiten, um die eigene nationale Selbstbestimmung zu legitimieren, sondern muß sich daran messen lassen, mit welcher Offenheit auch die eigene Schuld bloßgelegt wird. Ein Augenzeugenbericht

Einen Beitrag dazu hat der seit einigen Jahren in Berlin lebende lettische Jude B.Press geliefert. Er hat vor kurzem ein Buch Die Ermordung der Juden in Lettland geschrieben und es im Selbstverlag veröffentlicht. Gewidmet ist es den Toten, denn „der Mensch ist erst dann tot, wenn auch die Erinnerung an ihn gestorben ist“. So steht es im Talmud, und B.Press versucht sich zu erinnern: An die Namen und Bedeutung jüdischer Menschen während der kurzen Jahre der lettischen Republik, an den Leidensweg der lettischen Juden ab 1941 und an seine eigene Geschichte. Er selbst erlebte den deutschen Einmarsch in Riga als junger Medizinstudent, sein Vater war Ende 1941 Leiter einer der beiden Ghettopolikliniken. Der dichte Bericht über die Entstehung des Rigaer Ghettos basiert auf den Aufzeichnungen seines Vaters. Es gelang ihnen beiden, den großen Erschießungsaktionen vom 30.November und 8.Dezember 1941 zu entkommen, der Mutter und den Freunden gelang es nicht. An beiden genannten Tagen wurden unter dem Kommando des Höheren SS- und Polizeiführers Jeckeln, mit tatkräftiger Hilfe lettischer Hilfspolizisten, 28.600 Juden erschossen. Nach ihrer Flucht aus dem Rigaer Ghetto versteckte eine lettische Professorenfamilie Krumins die beiden fast drei Jahre lang. Mit seinem Buch hat der Autor auch dieser Familie ein Denkmal gesetzt. Folgt man B.Press, so gehörte diese Familie zu einer verschwindend kleinen Minderheit. Die Mehrheit schwieg zu der Judenermordung. „Es war nicht nur ein Meer des Hasses, das uns umgab, es war auch ein Meer des Schweigens. Zehntausende und Hunderttausende waren Zeugen des furchtbarsten Verbrechen der menschlichen Geschichte und schwiegen dazu. Nirgends regte sich die leiseste Stimme des Protests gegen das allgemeine Blutvergießen.“ Es schwiegen die Kirchen, die gesamte Intelligenz und auch die Politiker, die den Juden eine Generation zuvor die Bürgerrechte gewährt hatten. Sie schwiegen, „weil sie (die geistige Führung des Landes) in ihrer Mehrheit, zusammen mit der Mehrheit des lettischen Volkes, einer „Eliminierung“ der Juden durchaus wohlwollend gegenüber stand und den Pöbel nicht nur ins Blutvergießen hineinsteuerte, sondern auch selbst daran aktiv teilnahm“ (S. 45).

Es ist in der heutigen Geschichtswissenschaft völlig unbestritten, daß sowohl in der Ukraine als auch in den baltischen Ländern einheimische Hilfskräfte das blutige Werk der Nazis mitvollzogen haben. Claude Lanzmanns Film Shoah hat die Kollaboration polnischer Hilfsfreiwilliger ins Blickfeld gerückt. Sehr wenig wissen wir aber über die Eigenständigkeit der einheimischen Polizei und „Ordnungsdienste“. War es möglich, daß lettische Faschisten, die Perkonkrustler, die Aizsagisten und lettische Kommandos auf eigene Faust und ohne deutschen Befehl Tausende und Abertausende von jüdischen Kindern, Frauen und Männern hingerichtet haben, in einem Land, in dem es vorher nie Pogrome gegeben hatte, in dem jahrhundertelang Juden und Nichtjuden friedlich mit- und nebeneinander gelebt hatten? Es war möglich, B.Press bejaht es und belegt es mit vielen Beispielen. Er bietet für das Ungeheuerliche auch eine Erklärung an, die nicht ganz überzeugt, aber welche tut das schon? Der Anfang vom Untergang des lettischen Judentums wäre der Hitler-Stalin-Pakt gewesen, der das Land der sowjetischen Okkupation auslieferte. In den wenigen Monaten der Besetzung seien viele Juden aufgrund ihrer vielfältigen Sprachkenntnisse in administrative Positionen aufgestiegen, in Positionen, die sie vordem nie gehabt hatten. Im Bewußtsein der Bevölkerung verschmolz „das Bild vom verhaßten Sowjetregime mit dem Bild des Juden in bevorzugter Stellung zu einer Vorstellung, nämlich zu dem des jüdischen Kommunisten.“ (S. 31) Den Einmarsch der Deutschen im Juni 1941 hätten sehr viele Letten als Befreiung von den Sowjets empfunden, und angeheizt durch die nationalsozialistische Propaganda, die jeden Juden zu einem bolschewistischen Weltverschwörer machte, hätten sie blutige Rache genommen. Aber Rache an Frauen und Kindern, Greisen und Kranken? B.Press zitiert den Chef der Aizsagis namens Gulbis, der nach einer Massenerschießung in Valmiera begeistert ausrief: „Nur die Männer erschießen? Gebt die Frauen und Kinder auch her! Wenn schon, dann mit den Wurzeln!“ (S. 47)

B.Press ist nicht der erste Augenzeuge, der das Morden der lettischen Hilfstruppen in den ersten Monaten der deutschen Besatzung zu beschreiben versuchte. Schon unmittelbar nach dem Krieg erschienen Berichte, die eindeutig darauf hinweisen, daß das lettische Engagement am Völkermord groß gewesen ist. Nicht nur in Lettland, sondern ebenso in Litauen und Estland. „Genau wie die Letten hatten auch die Litauer die Initiative zum Judenmorden schon vor dem Eintreffen der Deutschen ergriffen. Auch in Litauen hatte das Jahr sowjetischer Herrschaft, das mit einer großangelegten Deportation endete, den fruchtbaren Boden für das Reifen antisemitischer Gefühle bereitet.“ (S. 102)

Es kann nicht darum gehen, die Schuld der Deutschen zu verkleinern, ihre Treibjagden im Baltikum mit dem Hinweis auf die Ortskenntnisse der lettischen Schergen zu banalisieren. Aber wir wissen so wenig über die Vernichtung der Juden vor dem Wannseer Befehl zur „Endlösung“, so wenig über den Prozeß der Ghettoisierung im Osten, so gut wie nichts über den außerdeutschen Beitrag am europäischen Holocaust. Berichte wie der von B.Press, der seinem Buch eine Vielzahl Überlebensgeschichten von Leidensgefährten beigefügt hat, haben deshalb einen hohen sozial- und zeitgeschichtlichen Wert, an denen weder deutsche noch lettische Historiker vorbeigehen dürfen. Es wäre zu hoffen, daß die lettischen Historiker den Mut finden würden, die noch lebenden Zeugen zu befragen, die lokalen Archive durchzuforsten, die Prozeßakten auszuwerten, ihre Kenntnisse mit den Unterlagen in Yad Vashem, New York Jewish Heritage Center, Bundesarchiv und Institut für Zeitgeschichte zu ergänzen. Es ist noch so viel im Dunkeln, und die Wunden der Überlebenden und Nachgeborenen sind noch frisch. „Daß wir unsere Angehörigen bereits vor Jahren verloren haben“, schreibt B.Press, „macht uns ihren Verlust nicht leichter, daß man sie abgeschlachtet hatte, begriff unser Verstand, aber unsere Seele konnte sich nicht damit abfinden. Sie erlitt einen Riß, der uns daran hinderte, in natürliche Beziehungen zu Nichtjuden zu treten, die mit dem Naziregime in Berührung gekommen waren. Insgeheim richteten wir an sie stets die Frage, welcher Überzeugung sie wohl damals gewesen wären. Waren sie zu jung, um irgendwelcher Missetaten verdächtigt zu werden, bestand doch der bohrende Verdacht, sie könnten unaufrichtig sein. So blieb das Leben, daß wir gerettet hatten, ein von Zweifeln angekränkeltes Leben.“ (S. 210) Das Buch von Press beginnt mit dem bitteren Satz: „Lettland, unsere Heimat mit ihrer Hauptstadt Riga, war vor dem Zweiten Weltkrieg ein weithin bekanntes Zentrum jüdischen Lebens und jüdischer Kultur, wovon nichts übrig geblieben ist, als der blutdurchtränkte Boden und die Erinnerung.“ Es endet mit dem traurigen Satz: „Es ist dieser Kummer, der es uns so schwer gemacht hat, den Anschluß an das Nachkriegsleben zu finden.“

B.Press, Judenmord in Lettland 1941-1945. Selbstverlag Berlin 1988, DM 29.80. Zu beziehen über: Wolff's Bücherei, Bundesallee 133, 1 Berlin 41.