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„Das ist eine Übergangslösung“

Andras Kovacs, Soziologe, ist Mitbegründer des oppositionellen Bunds freier Demokraten - er hat seit 1977 in Ungarn Berufsverbot  ■ I N T E R V I E W

taz: In letzter Zeit hieß es, die Reformer innerhalb der Kommunistischen Partei strebten eine Spaltung an. Pozsgay hat im März gefordert, „der traditionalistische, fundamentalistische und stalinistische Flügel“ solle die Partei verlassen. Die könne dann die „Identität einer tatsächlich europäischen, demokratischen Partei“ bekommen. Haben die Reformer jetzt auch ohne Spaltung die Macht übernommen?

Andras Kovasc: Noch nicht. Das neue Parteipräsidium ist zwar eine Folge der Vertrauenskrise, in die Parteichef Grosz geraten war, der einfach zu oft seinen Standpunkt gewechselt hat. Andererseits gibt es im Parteiapparat ziemlich starken Widerstand gegen Pozsgay. Vor kurzem erst haben die Konservativen eine eigene Fraktion, die sogenannte Plattform Marxistisches Zentrum gegründet. Und es ist erst zwei Wochen her, daß auf einer regionalen Parteikonferenz die Reformer nicht einmal auftreten durften.

Einer der führenden Reformer, Rezso Nyers, ist jetzt aber Präsident der Partei geworden.

Nyers ist eine Kompromißfigur. Einerseits war er schon in den sechziger Jahren als ZK-Sekretär für die Wirtschaftsreform zuständig. Und als die Reformen rückgängig gemacht wurden, da hat er sich - im Gegensatz zu anderen Reformern - geweigert, einen repräsentativen Posten als Vizeministerpräsident anzunehmen. Das hat ihm Prestige bei der Bevölkerung eingebracht. Außerdem hat er schon 1986 gesagt, daß Wirtschaftsreform ohne politische Reform nicht möglich sei. Andererseits vertritt Nyers auch die Kontinuität: Er war schon 1957 in der ersten Kadar -Regierung. Und in der letzten Zeit war er in politischen Fragen viel vorsichtiger als Pozsgay.

Was ist denn Pozsgay für ein Mann? Manche nennen ihn einen ehrlichen Reformer, andere halten ihn für jemanden, der nur die Machtposition der KP retten will.

Er ist beides. Er will die Reformen, und er ist überzeugt, daß die Partei keine andere Chance hat. Er glaubt daran 'daß eine reformierte Kommunistische Partei eine relative Mehrheit im Parlament erhalten und dann in einer Koaltion mit kleineren Parteien regieren kann.

Wie stehen denn die Chancen für ein solches Szenario?

Das ist schwierig einzuschätzen. Im Parteipräsidium haben die Reformer zwar jetzt die Mehrheit, aber die Kompetenzverteilungen zwischen dem Generalsekretär Grosz und dem neuen Parteipräsidenten Nyers sind noch unklar. Es scheint, daß wir hier eine Übergangslösung vor uns haben bis zum Parteikongreß im Herbst.

Wer wird denn dort die Mehrheit haben - Pozsgay oder die Stalinisten?

Das wird davon abhängen, wie die Delegierten bestimmt werden. Bis jetzt wurden sie immer indirekt gewählt, da konnte der Apparat die Wahlen hundertprozentig manipulieren. Jetzt hat Pozsgay vorgeschlagen, die Delegierten direkt von den Parteizellen wählen zu lassen. Für die Reformer sind direkte Wahlen lebensnotwendig, sonst haben sie keine Chance.

Kann man denn sagen, die Reformer haben die Parteibasis hinter sich?

In den Reformerkreisen sammeln sich bisher hauptsächlich die Intellektuellen, nicht die einfachen Parteimitglieder. Wir wissen nicht, wie die auf alle diese Veränderungen reagieren werden. Die Parteibasis, das sind auch die Leute aus Militär, Polizei und Verwaltungsbehörden.

Und die Opposition? Werden die Verhandlungen am runden Tisch für sie jetzt leichter?

Jedenfalls wird die Partei nicht mehr versuchen, einzelne Gruppen wie die Jungen Demokraten (FIDESZ) von den Gesprächen auszuschließen und andere zu vereinnahmen. Jetzt wird man wohl endlich über inhaltliche Fragen eines geregelten Übergangs zur Demokratie reden.

Interview: Michael Rediske

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