: Immer leicht versoffene Baßlage
■ Isaak Babels Drama „Sonnenuntergang“ (1927) als „Musical“ von Alexander Schurbin und Assar Eppel (1987) Ein Gastspiel des Moskauer Theater-Studios „Musikalischer Zeitgenosse“ im Rahmen der Züricher Junifestwochen
Die Söhne Benja und Ljokwa hält er kurz, läßt sie nicht zu Teilhabern seines Fuhrunternehmens nachrücken, und sie verlegen sich aufs Einbrechen. Die Tochter Dworja verfettet zum alten Mädchen in ihrem Unglück, da dem Vater die Mitgift für sie zu schade ist. Und sein Eheweib Nechama stöhnt: „Daß du doch nie das Licht der Welt erblickt hättest, Peiniger!“ Doch da verfällt der 62jährige, noch immer lebensgierige Mendel Krik der blutjungen Marussja, will alles Hab und Gut zu Geld machen und mit ihr ins Paradies durchbrennen. Die Sinnlichkeit hat ihn zu Fall gebracht. Denn jetzt erheben sich die Söhne und erschlagen den Alten beinah, um sich wenigstens an seinem Besitz unschädlich zu halten. Soviel zur Handlung, dem Untergang Mendel Kriks 1913 im Ghetto zu Odessa.
Isaak Babels Drama Sonnenuntergang, 1927 geschrieben, erzählt Weltgeschichte als Familiengeschichte. Zehn Jahre nach der Revolution fesselt Babel, den ehemaligen Soldaten der Reiterarmee, den brilletragenden jüdischen Intellektuellen noch immer das Thema der rohen, animalischen Sinnlichkeit, einer lustvoll ausgelebten virilen Grausamkeit, die eine Revolution in den Bürgerkrieg, eine Familie ins Morden treibt. Pasolinis Väter-und-Söhne-Orgien sind nichts, verglichen mit der Groteske des Schreckens.
60 Jahre lang war Babels Sprengsatz auf den sowjetischen Bühnen nicht zu sehen. 1987 kam Sonnenuntergang nach dem Libretto von Assar Eppel und mit der Musik von Alexander Schurbin im Moskauer Theater-Studio „Musikalischer Zeitgenosse“ erstmals als „Musical“ auf die Bühne. Nun war es auf den Züricher Festwochen zu sehen.
Einen argen Streich haben Schurbin und Eppel da ihrem jüdischen Genossen Babel gespielt. Die Klarinette gackert, die Violine schluchzt; es hüpft und gluckst der Baß und das Piano echot klimpernd die Refrains. Sonnenuntergang als Operette, als folkloristische Schmonzette. Der Komponist selbst hingebungsvoll mit Schmelz und Bombast am Klavier, der Librettist daneben als Erzähler (deutscher Sprache!) am Mikrophon. Und auf der Bühne unter der Regie von Georgij Anssimow das begeisterte Ohnesorg-Theater der jungen Absolventen des Staatlichen Instituts für Theaterkunst. Die Bühnenwände hängt ein mit jüdischen Figuren und Motiven bemaltes, an Chagall erinnendes Tuch aus. Die Mitte der Szene beherrscht ein vielfach wandelbarer Fuhrkarren. Die Kostüme der Juden sind pittoresk, mit Gebetsschal und Käppi, die der Damen und Ganoven papageienbunt. In Mendels Haus wechselt bieder gemütliche mit krachlederner oder hysterischer Komik.
Mendel steht überwiegend breitbeinig da. Hebt er an zu singen, hört man ein Wyssotzkij-Double, dessen heisere, immer leicht versoffene Baßlage wohl für sinnlich gilt. Marussja aber, eine russische Schönheit mit langem Blondhaar, vollen Oberarmen und übbigem Busenm, lümmelt von Anfang an so züggellos auf dem Karren herum, verliebt trällernd und augenkullernd, daß jede erotische Spannung zum Teufel ist. Mendel wiederum, statt wie bei Babel zitternd und atemlos vor Begierde zu schweigen und so die Triebfeder für die Katastrophe zu spannen, grunzt hier gleich zu Beginn sein „Marussjetschka-, und das dann dreimal!! Und der Kutscher Nikifor in blauem Kuttel, brauner Weste und schwarzen Kniestiefeln, die Mütze ehrerbietig in der Linken, verkörpert so ohne jede Angst vor der demütigenden Knute seines Herrn das gute, anständige Volk, daß auch hier kein Gedanke an Revolution aufkommt.
Im Schlußbild spannt sich der gebrochene Mendel vor den Fuhrkarren und zieht die Last seiner triumphierend daraufstehenden Söhne (eine schöne Umkehrung des antiken Bildes, in dem Äneas seinen Vater Anchises auf den Schultern aus dem untergehenden Troja trägt). Daß aber die nachfolgende Generation noch übler herrscht als die alte, davon ist in der Aufführung wenig zu merken. Man hat sich ein bißchen gebalgt und lebt dann wieder. Kinder, die Welt ist doch schön! Und Babel bleibt weiter für die sowjetische Bühne zu entdecken. Unklar bleibt auch, wieso diese Boulevard-Inszenierung nach Zürich eingeladen wurde. Denn repräsentativ für das aufbrechende russische Theater der Gegenwart ist sie nicht.
Marie-Luise Bott
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