: Die Stärkung der Republiken hilft auch Gorbatschow
Interview mit Janis Jurkans, Koordinator der Außenbeziehungen der Volksfront Lettlands, und Vladens Dozorcevs, Chefredakteur der russischsprachigen Kulturzeitschrift 'Daugava'; beide sind Mitglieder des Rats der Volksfront Lettlands. ■ I N T E R V I E W
taz: Macht die Volksfront Lettlands ihre eigene Außenpolitik? Reicht es nicht, daß Michail Gorbatschow und seine Perestroika-Crew für Schönwetter in der Bundesrepublik gesorgt haben?
Janis Jurkans: Ich glaube, hier in Deutschland versteht man die baltischen Auseinandersetzungen nicht richtig. Es handelt sich bei uns nicht um eine nationalistische Bewegung, sondern um eine demokratische. Wir sind hier, weil hier auch über uns gesprochen werden soll.
Einer der Gesprächspunkte im Vorfeld des Besuchs Gorbatschows war das Zusatzprotoll zum Stalin-Hitler-Pakt, das die Interessensphären zwischen Deutschland und der Sowjetunion 1939 festschrieb und das Ende der Unabhängigkeit der baltischen Länder bedeutete. Dieses Protokoll gibt es bisher nur als Mikrofilm in der BRD. Bis jetzt haben sich die sowjetischen Stellen geweigert, das sowjetische Pendant herauszugeben.
Jurkans: Auch wenn das Dokument bisher in der Sowjetunion nicht aufgetaucht ist, so ist seine Existenz eigentlich unbestritten. Schon allein die Repatriierung der Deutschbalten beweist seine Existenz. (Nach dem Stalin -Hitler Pakt verließen die Deutschen ab 1940 die baltischen Länder und wurden im Memelgebiet, vor allem aber auf polnischem Gebiet, im damals sogenannten Westpreußen angesiedelt, Anm.d.Red.)
Welche Konsequenzen sind aus dieser brisanten historischen Debatte zu ziehen. Wenn ich mich recht erinnere, dann waren noch im März die Diskussionen in der Lettischen Volksfront recht vorsichtig in bezug auf die Forderung nach Unabhängigkeit. Mehr autonome Rechte, mehr Selbstbestimmung, darauf lief es damals hinaus. Doch heute scheinen sich die Forderungen zu radikalisieren.
Vladens Dozorcevs: Wir haben verschiedene Dokumente, worin die Position der Volksfront festgelegt ist. Einmal das Programm der Volksfront, in dem die Sowjetunion im Leninschen Sinne als ein Verteidigungsbündnis definiert wird. Im Verlauf der Diskussion wurden weitere Forderungen gestellt. Im ökonomischen Bereich bedeutet das, eine Eigenständigkeit anzustreben. Es geht zwar nicht, sich völlig von der Sowjetunion loszulösen, aber wir möchten selbst unsere eigene ökonomische Entwicklung bestimmen können. Im neuesten Beschluß der Volksfront ist eindeutig festgehalten, falls wir innerhalb der Föderation unsere Souveränität nicht erhalten können, dann müssen wir den Weg einer völligen Unabhängigkeit bestreiten. Am 10.Juni hat der Vorstand der Volksfront sich sogar einhellig dafür ausgesprochen, über den Weg zur Unabhängigkeit zu diskutieren.
Wenn die Forderungen jetzt so weit gehen, dann scheint mir das unrealistisch...
Dozorcevs: Es ist nur gesagt worden, wir müssen darüber diskutieren. Es gibt aber eine Grundstimmung für die völlige Unabhängigkeit. Realpolitisch sollte man aber über den ganzen Komplex sorgfältig nachdenken und darüber, welche Möglichkeiten die Verfassung uns bietet. Denn die Sowjetunion und auch der Oberste Sowjet der Republik werden hier an diesem Punkt nicht zustimmen. Es gibt Leute die wollen den radikalen Bruch, und andere, die alles beim alten lassen wollen. Wenn zu viele Spannungen erzeugt werden, erreicht man gar nichts, wahrscheinlich aber die Panzer auf den Straßen.
Wie stark sind denn die Gegenkräfte in Lettland selbst. Wie stark ist die Interfront?
Jurkans: Die Interfront erschien Anfang des Jahres als große Kraft, im April wieder, als Lettisch zur Staatssprache werden sollte, doch heute ist der Einfluß zurückgegangen. So sollten damals Warnstreiks stattfinden, nur 4.000 haben teilgenommen. Seither haben die Interfronten an Einfluß eingebüßt.
Hängt das damit zusammen, daß ein großer Teil der russischen Einwanderungsbevölkerung in Lettland, der das Rückgrat dieser Interfronten bildet, auch für die Perestroika ist und damit eben konservative Standpunkte gar nicht will?
Beide: Ja, das stimmt.
Wenn das aber so ist, dann ergeben sich doch strategische Konsequenzen für die Volksfront. Dann wäre es doch richtig, sich mit allen Kräften für die Perestroika in der gesamten Sowjetunion zu verbünden und den Reformern den Rücken zu stärken.
Jurkans: Natürlich gab es von Anfang an Solidarität mit anderen Nationalitäten innerhalb der Gesellschaft, mit anderen demokratischen Kräften. Die Volksfront hat sich eingesetzt für die Kalmüken, für die Tataren, für die Georgier, für die Weißrussen, Krimtataren und viele andere. Da sieht man gleiche Interessen. Aber auch gleiche Probleme.
Was passiert jetzt aber. Wir haben da einen Gorbatschow, der innerhalb einer konservativen Mehrheit in der Partei Politik machen muß. Ist es nicht gefährlich, mit der Forderung auf Eigenständigkeit diese Position Gorbatschows zu erschüttern?
Dozorcevs: Gerade die Stärkung der Republiken könnte zu einer Stärkung der Union führen. Es gibt die Frage, was möchte man in der Sowjetunion, eine Föderation der Republiken oder einen Einheitsstaat. Auch Gorbatschow hat erkennen müssen, wozu die zentralistische Politik geführt hat.
Auch der russische Nationalismus ist im Kommen. Glauben Sie nicht, daß hier eine Gefahr für die demokratische Bewegung in den Republiken entsteht, wenn der Bogen überspannt wird?
Jurkans: Auch die Russen sind aufgefordert, den demokratischen Weg zu gehen. Es gibt auch Kontakte und Diskussionen zwischen den beiden Völkern. Aber wir können nicht warten, bis der russische Bauer aufsteht. Wir wollen nicht mehr so lange warten.
Dozorcevs: Das Plenum über die Nationalitätenfragen ist erneut verschoben worden, auf Juli vielleicht. Warum? Gorbatschow hat sich nicht beeilt. Er mußte erst seine Position im Inneren stärken, auch im Obersten Sowjet. Natürlich überwiegen noch die Konservativen im Staat. Doch Gorbatschow wird es in Zukunft viel leichter haben, über Nationalitätenfragen zu reden und vielleicht auch Maßnahmen zu ihrer Lösung einzuleiten.
Das Gespräch führte Erich Rathfelder
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