: „Wir haben wenig wahre Informationen über China“
■ Valentin Jumaschew, sowjetischer Redakteur, über Pressefreiheit, Leserbriefe und China-Berichterstattung in der UdSSR
Die Monatszeitschrift 'Ogonjok‘ zählt zur Zeit zu den fortschrittlichsten Publikationen der Sowjetunion. In einem Gespräch mit dem Redakteur Valentin Jumaschew, das demnächst ungekürzt in der Zeitschrift 'Osteuropa-Forum Aktuell‘ erscheinen wird, geht es um Vorzensur und darum, wie die Presse über die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China berichtet.
taz: Herr Jumaschew, Sie sind Journalist von 'Ogonjok‘. Wie kamen Sie zu 'Ogonjok‘?
Valentin Jumaschew: Ich arbeite seit zwei Jahren bei 'Ogonjok‘. Dort habe ich zu einem Zeitpunkt angefangen, als 'Ogonjok‘ ein Symbol von Glasnost und Perestroika in der UdSSR wurde. Davor war ich acht Jahre Journalist bei der 'Komsomolskaja Prawda‘, einer sowjetischen Jugendzeitschrift. Jetzt bin ich bei 'Ogonjok‘ der für die Leserbriefseite verantwortliche Redakteur. Das ist eine sehr interessante Tätigkeit, da sich bei den Leserbriefen ein sehr breites Spektrum an Meinungen findet. Wir haben Leserbriefe, in denen geschrieben wird, daß heute nur noch Stalin helfen könnte, und wir geben andererseits Leserbriefe wider, die sehr linke Positionen vertreten. Unsere Leserbriefseite ist fast schon so eine Art Hyde-Park geworden. Und diese Vielfalt wird jeden Monat breiter. Diese Möglichkeit, ein so breites Spektrum an Meinungen wiederzugeben, haben wir erst durch die Politik der Glasnost bekommen.
Sie sind der Verantwortliche für die Leserbriefseite. Heißt das, daß Sie der einzige sind, der darüber entscheiden kann, welche Leserbriefe abgedruckt werden, oder hat da die Zensur auch noch ein Wörtchen mitzureden?
Zur Zeit bin ich natürlich nicht der einzige, der darüber zu entscheiden hat, welche Leserbriefe abgedruckt werden. Ich bereite in der Regel 20 vor, von denen dann aber nur 12 bis 15 erscheinen. Nun, wer entscheidet also noch mit? In erster Linie ist die Haltung des Chefredakteurs wichtig. Ich muß jedoch sagen, daß meine Politik, ein möglichst großes und weitreichendes Spektrum an Meinungen wiederzugeben, ganz im Sinne des Chefredakteurs ist. Desweiteren spricht sich bei bestimmten Artikeln die Zensur gegen die Veröffentlichung aus. In der Regel verbietet die Zensur bestimmte Briefe, die sich mit nationalen Fragen beschäftigen. Wenn die Zensurbehörde zum Beispiel der Auffassung ist, daß sich ein bestimmter Leserbrief negativ auf das Verhältnis der Völker in einer konkreten konfliktreichen Siuation auswirken könnte, wird dieser Brief nicht zur Veröffentlichung freigegeben. Desweiteren werden in der Regel Briefe nicht zur Veröffentlichung zugelassen, die eine Kritik am Militär sind. Daneben unterliegen Leserbriefe, die den KGB kritisieren, der Vorzensur. Ich muß jedoch auch sagen, daß unser Spielraum mit jedem Monat größer wird. Heute können wir bereits Briefe abdrucken, die vor einem halben Jahr noch nicht durch die Zensur gegangen wären.
Letzte Frage zu den Ereignissen in Peking: Während des Besuches von Michail Gorbatschow in Peking hat die 'Prawda‘ sehr wohlwollend über die Studenten berichtet, die am Platz des Himmlichen Friedens ihre Sitzstreiks durchführten. Seit den blutigen Ereignissen in Peking werden in der 'Prawda‘ praktisch nur noch offizielle chinesische Angaben wiedergegeben. Wie läßt sich das Ihrer Meinung nach erklären?
Das hängt sicherlich mit der langen Geschichte der sowjetisch-chinesischen Beziehung zusammen. Anfangs gab es sehr freundschaftliche Beziehungen zwischen diesen beiden sozialistischen Staaten. Diese Freundschaft wurde in beiden Staaten sehr gefördert, es gab Lieder, die die sowjetisch -chinesische Freundschaft besangen, und in dieser Zeit studierten viele Chinesen in der Sowjetunion. Dann kam es zu den Konflikten zwischen den beiden sozialistischen Mächten, in deren Verlauf sogar Menschen an der sowjetisch -chinesischen Grenze starben. Nach 30 Jahren kalten Krieges zwischen diesen beiden Staaten besuchte endlich wieder ein sowjetischer Führer China.
Die Gespräche zwischen Gorbatschow und der chinesischen Führung waren im wesentlichen erfolgreich - und wenige Tage danach kam es zu dieser Tragödie. Ich glaube nicht, daß wir uns gegenüber den Chinesen in irgendeiner Weise verpflichtet haben, über die Ereignisse so zu berichten, wie wir es getan haben. Hier haben wir es mit Politik zu tun, mit Entscheidungen der Diplomatie. Mit Überlegungen, die eben davon ausgehen, daß sich die heutige tendenziöse Berichterstattung positiv auf das weitere sowjetisch -chinesische Verhältnis auswirken wird. Ich bin aber der festen Überzeugung, daß jede Desinformation - und das, was gerade in der sowjetischen Presse über China geschrieben wird, ist Desinformation - in jedem Fall schädlich ist, denn nur die Wahrheit kann uns weiterbringen. Nur die Wahrheit kann nützlich sein, egal ob die Wahrheit gut ist oder schlecht, ob sie sich auf die diplomatischen Beziehungen gut auswirkt oder nicht. Die Hauptsache ist, daß man eine Sache immer so darstellt, wie sie tatsächlich ist. Es gab auch Konflikte, in denen wir beide Standpunkte wiedergaben, ich möchte hier nur an den ungarisch-rumänischen Konflikt erinnern.
Das war eigentlich häufig beim Herangehen an Konflikte in sozialistischen Staaten so, daß wir sowohl den Standpunkt des entsprechenden Landes als auch den westlichen Standpunkt gebracht haben. Was China angeht, so haben wir das leider nicht gemacht. Hier entgeht uns eine große Flut an Informationen. Ich würde sagen, wir haben sehr wenig wahre Informationen über China. Trotz dieser Informationspolitik sind in Moskau Hunderte von Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Ereignisse in China zu protestieren.
Das Gespräch führte Bernhard Clasen
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